Zweierteam: Spotter und Scharfschütze Foto: Andreas Reiner

Unauffälliges Einsickern, Nachtschießen, Tarnen: Neun Scharfschützen der Deutsch-Französischen Brigade trainieren auf dem Truppenübungsplatz Baumholder.

Dimitri steht in der Niemandslandschaft eines Pfälzer Truppenübungsplatzes, lässt sich nass regnen und hat dabei etwas von der Coolness und Weltferne eines Shaolin-Mönchs. Nur, dass Dimitri, wenn er aus seiner inneren Ruhe tritt, nicht mit der Kranich-Technik oder im Drachen-Stil kämpft, sondern mit einer britischen G 22, Kaliber 300 Winchester Magnum. Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses: 885 Meter pro Sekunde.

 

Dimitri, 37, ist Scharfschütze beim Jägerbataillon 292 der Deutsch-Französischen Brigade. Er hat an diesem Morgen bereits ein paar Schuss abgegeben, war ganz zufrieden. Jetzt dürfen sich die Jüngeren auf die durchnässte Bodenmatte legen und ihre Ziele anvisieren. Dimitri wartet derweil in den Tag hinein. Warten ist das Erste, was ein Scharfschütze lernt. Vielleicht das Wichtigste.

Rund 900 Jäger, davon 16 Scharfschützen, gehören zum Bataillon. Verteilt auf die Standorte Donaueschingen und Stetten am kalten Markt. Ausgebildet für den Städtekampf und stark bewaldete Gelände. „Wir können aber auch Flachland“, sagt Oberstleutnant Oliver Richter. „Nur in den Höhen sind die Gebirgsjäger unentbehrlich.“

Richter ist Presseoffizier der Deutsch-Französischen Brigade und hat an diesem grauen Vormittag ein Ohr dafür, dass keine heiklen Informationen nach außen dringen. Manchmal wendet er sich an Dimitri: „Lieber nicht so ins Detail gehen – Operations Security.“ Der nächste Gegner liest vielleicht mit.

Die Ziele sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen

Truppenübungsplatz Baumholder, eine Welt für sich. 12 auf 15 Kilometer. Seit Sonnenaufgang sind die neun Donaueschinger Scharfschützen mittendrin. Als Verpflegung haben sie Hühnchen-Wraps, Orangen und Twix mitgenommen. In der Übungswoche trainieren sie unauffälliges Einsickern, Nachtschießen, Tarnen, Punktfeuer.

Auf den VW Caddy, der unten in einem Geländegraben steht, haben sie es heute nicht abgesehen. Ihre Ziele sind mit bloßen Auge kaum erkennbar. Eine menschenkopfgroße Metallscheibe in 500 Meter Entfernung. Torsi aus Gips in 750 Meter. Lebensgroße Holzfiguren hinter Büschen in 1000 Meter. Eine freie Wildbahn ist doch noch was ganz anderes als der Schießstand.

Scharfschützen gibt es nicht solo, nur als Zweierteams. Meistens übernimmt der erfahrenere die Aufgabe des Spotters. Der bestimmt mit seiner Hochleistungsoptik Entfernung, Neigungswinkel, rechnet Wetterdaten mit ein und gibt dem Schützen die Koordinaten zur Feineinstellung. Liegt das Ziel, wie hier in Baumholder, hinter einer Senke, sind die Windverhältnisse besonders diffizil. Da zeigt sich das ganze Gespür eines guten Spotters. Das G-22-Zielfernrohr vergrößert bis zu 25-fach. Mehr als die fünf Patronen im Magazin braucht es im Ernstfall nicht. Vorher heißt es: Abzug. Nach dem ersten Schuss bleibt nur wenig Zeit, bis man geortet ist.

In den 70er und 80er Jahren gehörten Militärkonvois auf ihrem Weg ins Manöver noch zum Straßenbild, auch in Innenstädten. Starfighter, die im Tiefflug Angriff auf die Trommelfelle machten, waren normal. Fast jede Familie hatte einen Wehrpflichtigen und somit die direkte Verbindung zur Truppe. Und wenn es vorbei war, setzten sich die jungen Männer lustige Hütchen auf und zogen bierselig durch Tag und Nacht.

Heute gibt es die Einsatzarmee, von der man höchstens in den Nachrichten hört, die ansonsten aber unsichtbar geworden und aus dem Alltag verschwunden ist. Der Soldat gilt inzwischen als Exot. Man findet ihn auf Truppenübungsplätzen wie in Baumholder.

Die dazugehörige Kaserne bot in den 60er Jahren mehr als 3000 Soldaten Platz. Heute ist sie eine Geisterstadt, von ein paar Handvoll Männern belebt, die das weiträumige Gelände verwalten, bewachen, sauber halten. Block reiht sich an Block. Vor manchen Gebäuden sind Absperrbänder, weil sie asbestsaniert werden. Über allem liegt der spröde Reiz eines riesigen Lost Place. Aber das soll hier ja auch kein Robinson-Club sein.

Scharfschützinnen gibt es keine

Hier sind Männer ganz unter sich, das muss man auch mögen. Streit gebe es eigentlich nie, sagt Dimitri. In Herrengruppen geht es aller Erfahrung nach sehr harmonisch zu. Scharfschützinnen hat das Bataillon keine, obwohl Frauen willkommen wären. Sie müssten halt wollen, körperlich wie psychisch fit sein – „robust“, meint Dimitri. „Und keine Hitzköpfe.“

Ein Scharfschütze muss in sich ruhen können. Oft liegt er viele Stunden, wenn nicht Tage, im Niemandsland, um den eigenen Kräften einen Lageüberblick zu verschaffen. Bei Einsätzen fällt in den allermeisten Fällen nicht ein einziger Schuss. Scharfspäher statt Scharfschützen.

Bevor es Drohnen gab, war es um einiges einfacher, in Waldgebieten eine gute Stellung zu finden. Jetzt spechtet der Gegner mit den Dingern auch noch von oben. „Du hörst sie nicht, du siehst sie nicht – aber sie dich“, sagt Dimitri. Je kälter, desto eher können die Wärmebildoptiken einen ausfindig machen. Auch die Bundeswehr hat Geräte, die ein Vögelchen in 1000 Meter Entfernung erkennen. Sommerhitze ist da günstiger, dann wärmen sich die Steine, Bäume, Sträucher in der Umgebung auf und verleihen dem Scharfschützen auch gleichsam thermischen Naturtarn.

Ein Schuss hallt. Das zigarrengroße Projektil jagt durchs Gelände. Der Gehörschutz kann seine Wucht kaum verschleiern. Mit dem G 82, der großen Schwester des G 22, schaltet man Infrastruktureinrichtungen oder leicht gepanzerte Fahrzeuge aus. Reichweite: bis zu 1800 Meter. Auf was oder wen Dimitri bei seinen Einsätzen schon zielte, sagt er nicht. Er war in Litauen, auf dem Balkan, dreimal in Mali, zweimal in Afghanistan – jeweils für ein halbes Jahr.

Malis Hitze strengt an. Vor allem mit knapp 60 Kilo auf dem Buckel: Gewehr, Tarnanzug, Verpflegung, Funkgerät, Sanitätsmaterial, Batterien für die Nachtsichtgeräte. Dimitri erkundete in dem westafrikanischen Land Bewegungen von Dschihadisten. Wie viele Motorradfahrer kommen ins Dorf? Wie viele Bewaffnete? Gibt es Grabungen? Oder andere Bautätigkeiten? Dann sind womöglich Sprengfallen in Vorbereitung. Jede Beobachtung wird minutiös protokolliert.

Sich dem Zielgebiet anzunähern, ist der gefährlichste Part

Vor dem Einsatz studiert Dimitri Karten und Luftbilder, um ein Gefühl für das Gelände zu bekommen. Sich dem Zielgebiet über Kilometer zu nähern ist der gefährlichste Part. Dann möglichst eine erhöhte Stellung finden. In der Stadt ein Häuserdach. In der Sahara sind selbst Hügelchen rar. Hat Dimitri einen guten Platz gefunden, skizziert er alles, was in seinem Sichtfeld liegt: Bäume, Formen, markante Punkte. Steht dann irgendwann ein Busch, wo zwei Stunden zuvor noch keiner stand, sollte er den vielleicht mal genauer ins Visier nehmen.

Am Hindukusch kühlt es nachts bis auf minus 20 Grad runter. Am besten, man sucht sich eine Kuhle und bettet sich ins Tarnnetz-Sandwich. „Dann liegen, liegen, liegen, nicht bewegen“, sagt Dimitri. Und konzentriert bleiben, während sich die Kälte langsam an einem festkrallt. Wenn man aufs Klo muss, läuft der Film rückwärts: mit Bedacht aus der Tarnung schlüpfen, langsam aus der Erdhöhle kriechen, wie ein Wildtier vorsichtig nach hinten gleiten. 15 Stunden lag Dimitri mal in Afghanistan. Da waren sie drei Teams.

Anfangs fiel ihm das ewig regungslose Liegen noch schwerer. „Mit dem Alter wird man ruhiger“, sagt er. Die Sehkraft habe auch abgenommen, aber es reiche noch. 16 Jahre ist Dimitri jetzt dabei: „Keine Minute habe ich bereut.“ Er hat sich nicht als Scharfschütze beworben, er wurde ausgewählt. „Kannst du dir das vorstellen?“, fragte sein Zugführer.

Die Eliteeinheit KSK hätte ihn auch gereizt. Aber Dimitri versuchte es gar nicht erst. Zehn Monate im Jahr weg von daheim, das verträgt sich mit keinem Familienleben. Dimitri hat Frau und Kinder. „Die Frau muss mitziehen, sonst geht es nicht“, sagt er. Und sie muss damit klarkommen, dass er im Einsatz sein Leben riskiert. „Das ist nun mal so“, sagt Dimitri. Und dass er im Ernstfall das Leben anderer beendet: „Auch das ist so.“

In Afghanistan erlebte Dimitri einen Sprengstoffanschlag mit, ein paar Mal war er bereits unter Feuer. Ein Konvoi mit zwölf Fahrzeugen, rund 50 Mann: Plötzlich intensiver Beschuss. Taliban, Tschetschenen mit schweren Maschinengewehren und Panzerfäusten. Raus aus dem Fahrzeug, Schutz suchen zwischen den Lehmhütten des Dorfs. Stellung sichern, Flanken decken. Kurz darauf sind bereits US-Kampfjets im Anflug, die Angreifer ziehen sich zurück. Bilanz: mehrere Schwerverwundete unter Dimitris Kameraden. Alle kommen durch.

„Nach so einem Erlebnis sprechen wir bei einem Eis darüber“, sagt Dimitri. „Das ist wichtig.“ Männer sind nicht nur Schweiger. Beim zweiten Mal, sagt Dimitri, sei es für ihn schon einfacher gewesen, mit der Todesangst umzugehen. „Auch die Teams sind dann eingespielter“, sagt Oberstleutnant Richter. Er war bei acht Auslandseinsätzen dabei. Kosovo, Bosnien, Litauen, Mali.

Das Ansehen der Truppe in der Bevölkerung ist gewachsen

Angesichts einer immer fragileren Weltlage sei das Ansehen der Truppe gewachsen, hat Richter festgestellt. Wenn er in Uniform im zivilen Leben unterwegs ist, wird er in letzter Zeit öfters angesprochen: „Schön, mal einen Soldaten zu sehen.“ Manche bedanken sich bei ihm. Wünschen ihm Glück. Manche Herren erzählen von ihrer eigenen Bundeswehrzeit. Man komme wieder leichter ins Gespräch. „Da ist eine Zustimmung zu spüren, ein wohlwollendes Interesse.“

Wie abwehrbereit ist unser Land überhaupt? Die deutsche Armee zähle immer noch zu den Top Five in der Welt, meint Oliver Richter. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Nation eng zusammenrücken, wenn es drauf ankommt.“

17 Uhr. „Das war’s für heute. Waffen ölen, Rohr durchziehen. Bis später.“ Abendessen gibt es in einem hallengroßen Kasernenraum. Kalter Steinboden, kalte Neonröhren. Oberstabsfeldwebel Sebastian, „die Mutter der Kompanie“, hat die Heizungen aufgedreht und die Bierzelttische mit weißen Decken aufgehübscht. So fühlt es sich für die Schützen wenigstens ein bisschen an wie heimkommen. Früher gab es traditionell Bockwurst zum Dinner, inzwischen hat sich Croque Monsieur – Schinken-Käse-Toast – international durchgesetzt. Dazu eine Flasche Feierabendbier. Chiemseer Helles.

Dimitri macht danach vielleicht noch ein paar Kraftübungen oder einen Ausdauerlauf über das einsame Kasernengelände. Und zum Ausklang eine Pokerpartie auf der Stube. Alle neun Scharfschützen sind in einem Gemeinschaftsraum unterbracht. Platz für Einzelzimmer gäbe es in dem Block mehr als genug. Aber zusammen ist schöner.