Ein ukrainischer Feuerwehrmann geht in der Nähe eines zerstörten Gebäudes am Stadtrand von Odessa durch die Trümmer. Foto: Max Pshybyshevsky/AP/dpa

Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hält die Welt in Atem – die sinnlose Gewalt erschüttert überall. Unsere Redaktion hat mit Salzstettens Ortsvorsteher Freddy Hassel, der früher als Diplomat für die Bundesrepublik Deutschland in Moskau und Minsk tätig war, über das Geschehen gesprochen.

Waldachtal-Salzstetten - Im Interview berichtet Freddy Hassel über seine Erfahrungen, die er in Russland und Weißrussland während seiner jeweils elf Monate Aufenthalt, gemacht hat.

Wie gut kennen Sie Russland und Weißrussland?

Als Sicherheitsbeamter habe ich in Russland und Weißrussland jeweils elf Monate lang gearbeitet und gelebt. In dieser Zeit als Diplomat konnte ich Einblicke in die Strukturen und Verhältnisse beider Länder gewinnen.

Was war das Besondere an Ihren Tätigkeiten?

Während meines Studiums für öffentliche Verwaltung organisierte ich zwei Studienfahrten mit Einblicken in das russische Innenministerium sowie in den russischen Grenzschutz (heute FSB - Inlandsgeheimdienst). In meiner Abschlussarbeit beschäftigte ich mich mit den Organisationen, Aufgaben und Befugnissen russischer Behörden mit Polizeiauftrag.

Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht, als Sie vor Jahren für das Auswärtige Amt in Moskau und Minsk dienstlich tätig waren?

Korruption war an der Tagesordnung. Schon damals zählte Russland zu den unsaubersten Ländern weltweit. Die Spuren des Putsches waren bei meiner Ankunft 1994 noch sichtbar. Während meiner Zeit in Minsk wurden im Jahr 1996 mehr als 65 Todesurteile vollstreckt. Präsident Lukaschenko hatte alle Gnadengesuche abgelehnt. Wirtschaftskrisen und Korruption schlugen sich in Minsk auch drastisch auf den Wechselkurs nieder.

Waren wir nicht alle hoffnungsvoll, Russland ins europäische Boot holen zu können?

Grundsätzlich ja! Der abgesprochene Rücktritt Jelzins, der Putin in die Führungsspitze brachte, hätte jedoch damals schon misstrauisch machen können.

Haben wir uns vom jetzt geouteten Aggressor hinters Licht führen lassen?

Ich denke schon. Putin hat stets taktiert, getäuscht und sogar die Verfassung umgangen. Durch unzählige Dekrete hat er bestehende Gesetze ausgehebelt.

Wie ist diese Heuchelei zu ertragen: Der Kriegsverbrecher hält eine Osterkerze in der Hand und führt gleichzeitig einen Vernichtungskrieg?

Dieser Missbrauch der christlichen Symbolik und Werte ist nicht auszuhalten.

Brachte die Rede Putins am vergangenen Montag, 9. Mai auf dem Roten Platz, neue Erkenntnisse?

Nein. Die Rede lässt großen Interpretationsspielraum zu und bestätigt das taktisch strategische Vorgehen Putins.

Was verfolgt der russische Machthaber für eine Strategie? Was sind seine Ziele?

Sein Ziel ist die Erweiterung des russischen Territoriums mit strategisch wichtigen Zugängen zum Schwarzen Meer. Dazu will er die Ukraine komplett vereinnahmen. Außerdem will er mit allen Mitteln die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern. Vernichtungskrieg und eiskaltes Kalkül ist seine Strategie.

Wie bedrohlich ist die Lage für uns in Deutschland?

Es besteht zweifelsohne eine ernsthafte Gefahr. Steigende Energiepreise, wachsende Flüchtlingswellen und die hohe Inflation sind bereits eingetreten. Auch eine militärische Auseinandersetzung ist nicht auszuschließen.

Wie ernst ist eine nukleare Bedrohung?

Solange nukleare Waffen produziert werden und existieren stellen sie eine Bedrohung dar. Gegenwärtig ist die nukleare Bedrohung vom Verhalten aller Akteure abhängig. Das auslösende und nicht auszuschließende Moment könnte ein Akt der Verzweiflung Putins sein. Ich hoffe sehr, dass es nicht dazu kommt.

Was macht der fürchterliche Krieg in Europa mit uns?

Er lässt uns zusammenrücken. Das ist zwar gut - zeigt aber auch die Ängste im eigenen Land, da wir den Krieg sozusagen vor der Haustür haben. Derartige Kriege haben uns in anderen Kontinenten bisweilen nie so beschäftigt.

Welche Zukunftsängste haben die Menschen hierzulande?

Existenz- und Überlebensängste.

Wie soll sich Deutschland respektive die Nato verhalten?

Sie soll Waffen – auch schwere – an die Ukraine liefern. Ein NATO-Einsatz sollte aber unterbleiben.

Wie ist Ihre Einschätzung, wie dieser Konflikt enden wird?

Ich stelle mich auf einen langen und brutalen Krieg ein. Russland versucht sein Ziel wie im Afghanistan- oder Tschetschenien-Krieg langanhaltend zu erreichen.

Helfen nur noch Beten und Gottvertrauen?

In Situationen, die ausweglos sind, hilft mir als gläubiger Katholik persönlich Gottvertrauen, was bedeutet, dass Unmögliches möglich werden kann.

Wie klein oder wie groß ist die Hoffnung auf dauerhaften Frieden in Europa?

Eine Hoffnung auf Frieden kann erst einsetzen, wenn der Krieg beendet ist. Zu befürchten ist meiner Meinung nach eher ein neuer "Kalter Krieg".