Die 41. Deutsch-Schweizer Literaturtage bieten auf der Rottweiler Saline ein Programm, das auch die gesellschaftspolitische Relevanz von Literatur zeigt.
Am Ende war Dinçer Güçyeter den Sekundenbruchteil schneller, den es brauchte, um zu verkünden, dass auf die Bahn Verlass sei: „Ich bekomme gerade die Mitteilung, dass mein Zug gestrichen ist.“ Elsa Koester hatte deshalb ebenfalls hastig und sichtlich erfreut nach einem Mikrofon gegriffen – aber eben den Sekundenbruchteil zu spät. Dass sie sich über einen Zugausfall freut, könnte mit der Veranstaltung zusammenhängen, zu deren Protagonisten sie und Güçyeter gehören.
Die Begegnung
Die Deutsch-Schweizer Literaturtage, vor 40 Jahren ins Leben gerufen und seither alternierend in Rottweil und der Partnerstadt Brugg veranstaltet, versammelte je vier Autoren aus Deutschland und der Schweiz in Rottweil und schließlich zahlreiche Besucher auf der Saline.
Die Werkhalle des Stahlplastikers Erich Hauser ist der zentrale Veranstaltungsort für die Begegnung von Literaturschaffenden und Literaturfans; Schnittmengen sind da durchaus vorzusehen. Bis dahin haben die von einer Literaturkommission eingeladenen Schriftsteller schon eine „Begegnung“ mit Rottweil – Nummer 1 – und unter Kollegen – Nummer 2 – hinter sich.
Die Stadt als Thema
Gerne werden Eindrücke von der ersten Begegnung, bereichert und hinterfragt durch eigene Erfahrung, aktuelle Recherche oder plötzlichen Impuls, auch für den Kern des eigenen Kurztextes für die Sonntagsmatinee herangezogen.
So verwundert es nicht, dass mancher Text von Trübnis ausgeht – und das in Bezug auf Rottweil! Dabei wird auch thematisiert, dass man genau das ja nicht will, den Gastgeber düpieren, dass man es aber schon auch irgendwie müsse, schon der Authentizität wegen. Und dann kommt, je nach literarischer Ausrichtung, noch eine (gesellschafts-)politische Einordnung hinzu. Aber ob es tatsächlich eine ist?
Das ungeplante Leitwort
Was auf jeden Fall ist bei diesen 41. Deutsch-Schweizer Literaturtagen: „Heimat“. Die kommt als Wort zwar so gut wie nie vor, allerdings erstaunlicherweise in jedem Text als Thema. Da sind die Erfahrungen von mehreren Heimaten, tatsächlich auch geografisch, jedenfalls sozial, die sich entsprechend sprachlich niederschlagen. José F. A. Oliver ist mit seiner sehr fein komponierten Lyrik und seinen Essays so ein Fall. Bei Dinçer Güçyeter kommt noch die Suche nach einer kulturellen Heimat hinzu, die er existenziell erfährt und durchaus gültig im Kulturbetrieb findet – den er teilweise selbst stützt.
Es gibt so eine Art Heimat in einer konfessionellen Verpflichtung, die aber auch als vorgeschoben, als vielleicht verklärte, verlässliche, da verfügbare interpretiert werden kann, wenn Micha Lewinskys Protagonisten sich auf eine Flucht begeben und dabei das Gefühl für Pragmatismus verlieren.
Dass diese Protagonisten eine Heimat auch in Familie oder deren Verlust haben, führt zu Nora Schramm, die ein mitunter verstörendes Bild einer toxischen Familie in Auflösung zeichnet, in dem weder die Familie noch die Toxizität noch die Auflösung so recht funktionieren will. Familie, beziehungsweise Bindungen an eine Familie mit deren ganz eigener Geschichte kann eine Art Heimat bieten – ein Ordnungssystem mit emotionaler Bindung und Versicherung einer Zukunft, die Meral Kureyshi fein entwickelt.
Elsa Koester macht aus einer literarischen politischen Reportage einen politischen Roman, konfrontiert in Ostdeutschland Blau mit Zukunftsgrün. „Heimat“ ist da bereits latent. Ganz anders, da politisch nicht in politischen Richtungen zu verorten, ist Lea Catrinas „Waldbad“ als real anmutender Touristenort in ihrer möglichen Heimat, Heimat für temporär Mondänes und Heimat für einen jungen Mann, der sich kaum dafür interessiert und dennoch für sie steht.
Und wie man Sprache als lokales Idiom für Heimat einsetzen kann, weiß schließlich Matto Kämpf, der lustvoll-launig mit Mythen und Größen – und erschreckend möglichen Wahrheiten im Emmental spielt.
Der Zuspruch
Vielfalt ist geboten, stilistisch, inhaltlich, im Vortrag. Tiefe haben sie alle. Auch was dahererzählt klingt, drückt Forschen, sensibles Ausloten und sicheres Formulieren aus. Dass die Halle von Anfang bis zum Schluss fast voll blieb, zeigt, dass die Begegnung gut komponiert war – und den Bedarf an literarischem Erlebnis. Die nächste Überprüfung wird wohl am dritten Septemberwochenende 2027 stattfinden. Am Ende ist auf Unzuverlässigkeit der Bahn kein Verlass: Es gibt Verbindung! Das Duo in Richtung Norden muss den Literaturtagen schnell den Rücken kehren. Zu schnell, wie manche – auch der Reisenden – finden.