Christian Honold. Foto: Schwarzwälder Bote

Kirche: Ein Impuls zum Hirtensonntag / Der Begriff "Herdenimmunität" gibt zu denken

Rottweil. "Herdenimmunität" – dieses Wort irritiert. Irgendwie passt es nicht in unser heutiges Leben. Wir erinnern uns da an eine Herde Schafe und fühlen uns unwohl, so plötzlich mit Tieren verglichen zu werden. Es heißt, das Coronavirus könne sich nicht so rasant ausbreiten, wenn der größte Teil der Bevölkerung die Krankheit schon gehabt hätte. Das wäre dann Herdenimmunität. Mich interessiert hier weniger die epidemiologische Bedeutung als vielmehr die Vorstellung, dass wir als Gesellschaft, als Bevölkerung der Welt demnach wie eine Viehherde dastehen. Das scheint nicht zu uns als Gemeinwesen mündiger Bürgerinnen und Bürgern zu passen.

In der Kirche feiern wir den kommenden Sonntag als "Hirtensonntag". Das Evangelium des Tages handelt von Jesus, dem guten Hirten. Da sagt Jesus: "Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben." Hier ist sie wieder, die Herde und ihr Hirte. Früher zierte manches Schlafzimmer ein Bild vom guten Hirten, dem Heiland, der seine Schafe hütet. Ein Bild für Geborgenheit und Fürsorge, dass Gott die Seinen beschützt und führt. Eine Hirtenidylle?

Nun aber zucken wir zusammen, wenn von Herdenimmunität die Rede ist. Das Wort von der Herde stört unser Streben nach Selbstbestimmung. Haben wir doch gute Gründe für unsere Vorbehalte. Denn da drängt sich der Gedanke an verblendete Massen auf, die sich von Oberhirten und Führern gängeln und bevormunden lassen. "Wir sind doch keine dummen Schafe!" – so möchte mancher einwenden. Wenn nun der Begriff "Herdenimmunität" jenseits von Religion und Hirtenidylle auftaucht, werden wir daran erinnert, dass wir Menschen eben auch als Herde unterwegs sind, dass wir als Einzelne in einer Schar leben, in der wir aufeinander angewiesen sind. Das Wort "Herde" erinnert uns sozusagen "tierisch" daran, dass wir als Einzelgänger und Egoisten nicht überleben können. Ich denke, wir brauchen in vielen Situationen den Sinn fürs Herdendasein – nicht erst bei Großveranstaltungen.

Was das bedeutet, können wir etwa bei Vogelschwärmen beobachten, die in einem Augenblick im Flug zugleich gemeinsam die Richtung wechseln. Zusammen eine Richtung haben, sich gemeinsam orientieren, darauf kommt es jetzt an – auf "Schwarmintelligenz". Wenn wir Christinnen und Christen uns auf das Bild vom guten Hirten besinnen, geht es um diese Kunst des gemeinsamen Lebens. Wir sollen nicht jedem Oberhirten hinterherlaufen, der uns eine bessere Welt verspricht. Aber wir orientieren uns gemeinsam an dem Einen, der sich ganz und gar für uns einsetzt und sich nicht davonmacht, wenn es gefährlich wird. Wir bewahren uns das schillernde Bild vom guten Hirten und seiner Herde, weil wir wissen, dass wir ohne gemeinsames Vertrauen auf den Herrn des Lebens nicht bestehen werden.

Das Wort "Herdenimmunität" bedeutet ja, dass wir als Herde, als Menschenschwarm "immun" – wörtlich "frei" werden von einer Gefahr. Frei würden wir, wenn wir gemeinsam auf diejenige Stimme hören könnten, die in die richtige Richtung führt, gerade jetzt, wo wir alle in Gefahr sind – und feiern deshalb eben keine Coronapartys. Im Evangelium des Hirtensonntags ist es die Stimme des auferstandenen Christus. Der dem Tode trotzt, ruft seine Herde zusammen. Die Herde lebt und wird frei, indem sie dieser Stimme folgt. Das ist eine ganz eigene Art "Herdenimmunität".