Ermittlungen sollen klären: Hätten die Morde verhindert werden können? Foto: Otto

Anwalt der überlebenden Mutter erstattet Anzeige gegen Polizei, Jugend- und Sozialamt.

Rottweil/Villingendorf - Hätte nicht nur die Nichte des Täters den Dreifachmord von Villingendorf verhindern können, sondern auch drei Behörden? Rechtsanwalt Wido Fischer lässt daran kaum Zweifel. Er vertritt die überlebende Mutter des getöteten sechsjährigen Jungen.

Drazen D. hat am 14. September vergangenen Jahres den gemeinsamen Sohn, den neuen Freund seiner Ex-Partnerin und dessen Cousine erschossen. Im Namen der 31-Jährigen hat Anwalt Fischer Strafanzeige gegen Beamte des Polizeipräsidiums Tuttlingen, gegen das Jugendamt Rottweil und gegen das Landratsamt Tuttlingen gestellt. Das fahrlässige Verhalten in allen drei Fällen sei "ursächlich für den Tod dreier Menschen", so der Anwalt.

Die Polizei

Nach Morddrohungen von Drazen D. am 19. August 2017 auf einem Parkplatz in Singen hatte die 31-jährige Ex-Freundin Anzeige bei der Polizei in Rottweil erstattet, zumal Drazen D. nach vorherigen Übergriffen auch gegen das Annäherungsverbot verstoßen hatte. Die Probleme fingen laut Fischer schon damit an, dass ein Praktikant die Anzeige aufgenommen habe. Fischer hatte bereits im Prozess kritisiert, dass die zuständige Oberkommissarin dann – entgegen allen Regeln – eine Gefährderansprache nur telefonisch an Drazen D. gehalten habe. Bei dieser einzigen Reaktion sei es geblieben.

Zweiter Vorwurf: Die offenbar von Drazen D. beschädigten Rollläden an der Villingendorfer Wohnung habe die Polizei als "Hagelschaden" abgetan, obwohl die fehlenden Teile sorgsam aufgereiht auf dem Fenstersims lagen. Eine kriminaltechnische Untersuchung sei unterblieben.

Dritter Vorwurf: Die Polizei habe seiner Mandantin zugesagt, in der Wohnstraße regelmäßig Streifenwagen vorbeizuschicken, betont der Anwalt. Er befragte alle Anwohner, die als Zeugen aussagten. Ergebnis: Keiner hat ein Polizeiauto in der Straße gesehen.

Ein Sprecher des Polizeipräsidiums Tuttlingen erklärt auf Anfrage, man könne sich zu einem laufenden Ermittlungsverfahren nicht äußern. Klar sei aber, dass unter der Federführung der Staatsanwaltschaft Rottweil unabhängige Beamte "aus der Nähe von Stuttgart" mit den Ermittlungen beauftragt würden.

Das Jugendamt Rottweil

Schon Ende Juni 2017 hat die Ex-Partnerin nach ihrem Umzug nach Villingendorf, so ihr Anwalt, dringend um einen Termin beim Jugendamt Rottweil gebeten, weil sie Angst hatte und Drazen D. nach ihrer neuen Adresse suche. Zu dem Gespräch mit der Sachbearbeiterin kam es dann erst am 10. August. Dabei äußerte die junge Frau ihre Angst, Drazen D. könne ihr und dem Sohn etwas antun, berichtet Fischer. Er verweist zugleich auf die Vernehmung der Sachbearbeiterin. Demnach, so sagte sie damals, wäre es ihr "ein Leichtes" gewesen, eine "Schutzwohnung" zu besorgen, wenn sich die Polizei bei ihr gemeldet hätte. Doch dazu sei es nie gekommen, bemängelt Fischer.

Zwar habe die Mitarbeiterin des Rottweiler Landratsamts vor Gericht noch erklärt, "keine akute Gefahr" erkannt zu haben, dagegen sprächen allerdings mehrere Fakten: Nicht nur die Jugendamtsakten hätten auf die Gefährlichkeit von Drazen D. hingewiesen, sondern auch die Mitteilungen eines Kripobeamten über die jüngsten Vorfälle.

Vor allem aber: Nach den Morddrohungen von Drazen D. am 19. August habe dessen Ex-Partnerin am 28. August einen verzweifelten Hilferuf an das Jugendamt geschickt: "Irgendwie hat er unsere Adresse herausgefunden ... Er droht ... Wir sind in Lebensgefahr!" Allerspätestens da hätte der Sachbearbeiterin die hohe Gefahr klar sein müssen, betont Fischer. Dennoch seien Konsequenzen ausgeblieben.

Nach Überzeugung des Anwalts handelt es sich um "eine rechtlich relevante Unterlassung, die schlussendlich zum Tod von drei Menschen geführt hat". Der Sozialdezernent des Landkreises Rottweil, Bernd Hamann, erklärt auf Anfrage: "Uns liegt keine Anzeige vor. Wir haben uns nichts vorzuwerfen."

Das Sozialamt Tuttlingen

Drazen D. hat vor Gericht erklärt, er habe Mitte März bei einem Termin im Landratsamt Tuttlingen der zuständigen Mitarbeiterin – trotz Auskunftssperre – über die Schulter blicken und auf dem Computer die geheime Adresse ablesen können. Damit sei "im Sinne des Strafrechts objektiv zurechenbar", dass der Täter auf diese Weise erfahren habe, wo seine Ex-Partnerin wohne, erklärt Fischer. Letztlich sei strafrechtlich entscheidend, ob Drazen D. die Tat auch ohne Einblick auf den Computer des Landratsamts hätte begehen können. Eine Sprecherin des Landratsamts Tuttlingen erklärt, es könne "ausgeschlossen werden", dass Drazen D. hinter der Mitarberiterin gestanden sei und auf den Bildschirm habe blicken können. Ein Kriminalhauptkommissar, der mit Nachermittlungen beauftragt worden war, stellte fest, dass man vom Rand des Besucherstuhls aus auf den Bildschirm sehen könne.

Fischers Fazit: Niemand habe die Bedrohungslage ernst genommen. "Das Nichthandeln war von einem erschreckenden Ausmaß an Gleichgültigkeit geprägt." Eine Vielzahl von Personen habe nicht nur gewusst, dass Drazen D. sich an seiner Ex-Partnerin rächen wollte, sondern auch, dass er nach einem Gewehr suchte. Das zeige, dass die Morde "möglicherweise hätten verhindert können". Anwalt Fischer erwartet von der Staatsanwaltschaft, "dass die Vorwürfe ernst genommen und mit der nötigen Sorgfalt geprüft werden. Sollte dies nicht der Fall sein und die Verfahren eingestellt werden, werden wir nach eingehender Prüfung der Begründung Rechtsmittel einlegen."

Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft bestätigt, die Anzeigen seien eingegangen. Seine Behörde warte zunächst das schriftliche Urteil ab, bevor man die Ermittlungen einleite. Dafür hat das Gericht bis Anfang September Zeit.

Mehr zum Dreifachmord in Villingendorf und dem anschließenden Prozess auf unserer Themenseite.