Was tun mit der Leiche? Allan und Jule Jonsson beschließen, zu fliehen. Foto: Bienger Foto: Schwarzwälder-Bote

Kultur: Premiere von "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" im Zimmertheater

Von Alicja Bienger

Wie bringt man einen mehr als 400 Seiten starken Roman, dessen Handlung 100 Jahre umfasst, in rund zwei Stunden auf die Bühne – mit nur vier Schauspielern? Dieser Herausforderung haben sich Regisseur Martin Olbertz und sein Ensemble gestellt – mit Erfolg.

Rottweil. Mit nur wenigen Requisiten, dafür mit umso mehr schauspielerischer Überzeugungskraft versetzten Niklas Leifert, Petra Weimer, Isabelle Groß de Garcia und Bagdasar Khachikyan das Publikum der restlos ausverkauften Premiere von "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" von Jonas Jonasson im Zimmertheater nicht nur ins zeitgenössische Schweden, wo die Geschichte beginnt, sondern schickten es auch auf eine turbulente Zeitreise quer durch das 20. Jahrhundert.

Man schreibt das Jahr 2005. Irgendwo in einem schwedischen Altenheim fristet Allan Karlsson (gespielt von Niklas Leifert) ein trostloses Dasein als Greis, der, ginge es nach dem Personal, nur noch brav auf seinen Tod warten würde. Heute aber, an seinem 100. Geburtstag, dreht Allan den Spieß um.

Während die anderen singen, haut er ab

Er lässt alle anderen warten – das Pflegepersonal, das ungeduldig ein Geburtstagsständchen nach dem anderen singt, teilnahmslos, dissonant und desinteressiert; die Presse; den Bürgermeister – und flüchtet, indem er einfach aus dem Fenster steigt und zum nächsten Bahnhof geht. Während die anderen unermüdlich "Allan, Allan, Allan!" rufen, ist er längst über alle Berge, nicht ohne zu bemerken: "Allan, Allan, Allan. Im Laufe meines Lebens haben mich schon viele Menschen angebrüllt."

Noch während er diese Worte ausspricht, springt die Handlung um 100 Jahre zurück, zum Tag von Allans Geburt. Fortan findet auf der Bühne stets ein Nebeneinander von Gegenwart und Vergangenheit statt: Petra Weimer, die soeben noch die nervtötende Schwester Alice im Altersheim verkörperte, wird plötzlich zu Allans Mutter, die in den Wehen liegt. Isabelle Groß de Garcia, die Hebamme, verwandelt sich mit nur wenigen Handgriffen in den jungen Allan, der seinen Eltern Löcher in den Bauch fragt, während der alte Allan seinen eigenen Vater spielt und gleichzeitig sich selbst, denn zwischendurch verschwimmen beide Zeitstränge miteinander, indem der neun- und 100-jährige Allan gleichzeitig sprechen.

Auf diese Weise wird die Biografie einer Persönlichkeit nachgezeichnet, die ein wenig an "Forrest Gump" erinnert: Alles, was Allan widerfährt, wirkt wie von Zauberhand gesteuert; nie scheint er vollkommen die Kontrolle über sein Schicksal zu behalten, sondern lässt sich treiben. Dennoch kommentiert er die Ereignisse stets treffend, indem er sie ungeschönt nacherzählt – frei nach dem Lebensmotto seiner Mutter, das leitmotivisch die gesamte Handlung bestimmt: "Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt."

Indem Allan nur scheinbar eine unbeteiligte Rolle in seinem eigenen Leben spielt, entlarvt er gleichzeitig die Lächerlichkeit jener Figuren, die mit ihrer Macht alles und jeden kontrollieren wollen und denen er im Laufe seines Lebens begegnet: Stalin (gespielt von Bagdasar Khachikyan), General Franco (Isabelle Groß de Garcia), Harry S. Truman (Petra Weimer), ja selbst Robert Oppenheimer (Groß de Garcia), der bei der Entwicklung von Nuklearwaffen mit seinem Latein am Ende und auf das Wissen des Sprengstoffexperten Allan angewiesen ist. Am Ende sind es jedoch stets die Mächtigen, die die Kontrolle über sich selbst verlieren – sie betrinken sich, singen und tanzen und machen sich vor ihren eigenen Anhängern zum Gespött.

Am Ende – so viel sei verraten – wird alles gut

Das ist auch im 20. Jahrhundert nicht anders, als Allan, unfreiwillig in den Besitz eines Koffers mit 50 Millionen schwedischen Kronen gelangt, auf seinem Roadtrip von Ganoven und Detektiven verfolgt wird, die, obwohl gefürchtet oder gesellschaftlich anerkannt, unfähig sind, einen flüchtigen Greis zu fassen. Unterwegs trifft er auf Gestalten, die wie er keinen Platz in der Gesellschaft haben – die Gelegenheitsdiebin Jule Jonsson, den Langzeitstudenten Benny Ljungberg und Aussteigerin Gunilla Björklund, die ihren Hof mit Elefantendame Sonja teilt.

Trotz aller Dynamik, der ständig wechselnden Rollen, einem Nebeneinander an Monologen und kurzen Filmsequenzen sowie fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Szenen wird das Stück niemals verwirrend. Immer wieder gibt es Szenen, bei denen das Publikum lauthals auflacht. Und am Ende – so viel sei verraten – geht alles gut aus, auch wenn sich die Protagonisten selbst immer wieder die Frage stellen: "Ist das alles wirklich wahr?" Die Antwort lautet: "Wenn ein’n man jümmers bloß de Wohrheit vertellt, denn is dat de Tid nich wert, dat je em tohört" (Wenn einer bloß immer die Wahrheit erzählt, dann ist das die Zeit nicht wert, dass man ihm zuhört.). "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" wird noch bis einschließlich 23. April im Zimmertheater gespielt.

Weitere Informationen: Karten unter www.zimmertheater-rottweil.de