Nach einem Jahr der Rückschläge und der neuen Hoffnung kann Pius Keller (hinten) wieder mit Vater Jürgen (links) und seinen Brüdern Emil (vorn) und Maximilian lachen. Foto: Schönfelder

Mit Anfang 20 erhielt er die vernichtende Diagnose. Stammzellen-Spender gefunden. Chance von 1:500 000.

Rottweil - War es Schicksal, Fügung oder einfach Glück? Bei einer Chance von 1 : 500.000 ist vielleicht auch der Ausdruck Wunder angebracht, und man muss schon sehr optimistisch sein, um auf diese minimale Möglichkeit zu hoffen, wenn es um Leben und Tod geht.

Noch vor einem Jahr schien Pius Keller unrettbar verloren, heute geht es ihm wieder gut, oder sagen wir, besser. Im Mai 2015 berichteten wir mehrfach über Pius. Mit Anfang 20 erhielt er eine vernichtende Diagnose: Blutkrebs – die weißen Blutkörperchen, die sogenannten Leukozyten, waren außer Kontrolle geraten. Die Krankheit gilt als unheilbar. Helfen kann nur die Stammzellenspende eines Menschen, dessen Gewebemerkmale fast nahtlos passen. Aber selbst die Stammzellen der engsten Verwandten, der Eltern, der Brüder waren nicht ähnlich genug. Sie konnten Pius nicht helfen.

Er wurde in die Uni-Klinik Tübingen verlegt, wo die Ärzte dem Krebs mit konventioneller Therapie zu Leibe rückten. Sie verfeuerten ihr ganzes Arsenal, indes, es war nur ein Aufschub. Das unausweichliche Schicksal schien seinen Lauf zu nehmen. Wirklich helfen konnte nur der passende Spender.

Und um den zu finden, setzte Pius’ Bruder Maximilian alles in Bewegung, was ihm zur Verfügung stand. Wenn unter den potenziellen Spendern der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) niemand zu finden war, dann mussten sich eben weitere Menschen typisieren lassen, so seine Schlussfolgerung.

Ein kleiner Pieks konnte ein Leben retten, ein paar Tropfen Blut konnten dem scheinbar unausweichlichen Schicksal seines jüngeren Bruders ein Schnippchen schlagen. Mit der Blutprobe werden die Gewebemerkmale bestimmt. Passt es oder passt es nicht?

Ein Aufruf in unserer Zeitung zu einer Typisierungsaktion im Rottweiler Kraftwerk zeitigte ein überwältigendes Echo. Kumpels, Freunde, die Familie, Kontakte über die sozialen Medien, erstmals drang die Problematik Blutkrebs in die Köpfe vieler Menschen. Eine Welle der Unterstützung brach los. "Wir mussten bei der Aktion sogar Helfer ablehnen, weil wir genug hatten", so Maximilian im Rückblick. An Schulen wurde gesammelt, um die Aktion zu finanzieren, Rottweils OB Ralf Broß setzte sich ein und warb für das Vorhaben. Medizinisches Personal meldete sich freiwillig, und die Spender standen vor dem Kraftwerk Schlange.

Diesen Pieks wollten viele, besonders junge Leute, auf sich nehmen, um Pius zu retten. Am Ende des Tages hatten sich unglaubliche 3500 Menschen typisieren lassen und wurden in die DKMS aufgenommen.

Kein Spender in Rottweil

Aber all die Mühe, aller Einsatz war zunächst umsonst. Es fand sich kein Spender in Rottweil. Der Krebs schien den Sieg davonzutragen.

Die Ernüchterung war grausam. Aber Pius verlor seinen Optimismus dennoch nicht: "Ich habe eigentlich immer daran geglaubt, dass sich jemand findet. Für mich war es nur eine Frage der Zeit."

Der heute 22-Jährige sollte Recht behalten, es fand sich "jemand". Allerdings wohnt dieser nicht gerade um die Ecke, sondern ist amerikanischer Staatsbürger. Ein unglaublicher Treffer.

Aber Pius Leidensweg war damit noch nicht zu Ende. Die Stammzellen in seinem Knochenmark mussten komplett zerstört und das Selbstverteidigungssystem des Körpers ausgehebelt werden. Denn die winzigen Lebensretter mussten vor der feindlichen Welt in Pius’ Körper geschützt werden. Die Körperabwehr musste quasi entwaffnet werden, damit es nicht zu einer fatalen Reaktion kommen konnte.

Der "wehrlose" Pius wurde isoliert, denn jede Erkältung hätte ihn jetzt gefährden können. "Wir konnten ihn nur in steriler Kleidung und mit Mundschutz besuchen", so Maximilian.

"In der Infusion waren rund 23 Millionen Stammzellen eines anderen Menschen. Sie suchen sich ihren Platz im Körper, und wenn alles klappt, beginnen sie nach rund zwei Wochen eigene Leukozyten zu produzieren", erklärt Vater Jürgen Keller die Therapie.

Der Ablauf habe optimal gepasst, so Keller. Pius sei zur richtigen Zeit bereit für die fremden Stammzellen gewesen. Die winzigen Retter liefen aus einem scheinbar gewöhnlichen Blutbeutel in seine Adern. Inzwischen haben sich die fremden Stammzellen wohl "eingelebt", denn sie haben begonnen, eigene Leukozyten aufzubauen. Die Blutwerte verbessern sich kontinuierlich.

Pius und Maximilian haben während des Gesprächs oft Blicke gewechselt. Die beiden strahlen sich an, sind glücklich, dass sie zusammensitzen und berichten können. Sie haben, so wie es momentan aussieht, die heimtückische Krankheit besiegt. Die Therapie scheint anzuschlagen. Pius fühlt sich gut und: "Ich hab’ wieder Haare und sehe wieder normal aus."

Aktion nicht nutzlos

Wird er seinen Retter in Amerika einmal kennenlernen können? "Nach zwei Jahren ist das möglich, wenn beide Seiten dies wollen", so Pius. Er will jedenfalls.

Ach übrigens, die Rottweiler Typisierungsaktion war alles andere als nutzlos. Jürgen Keller berichtet, dass mehrere der damals Beteiligten überprüft worden sind, ob sie in anderen Fällen die passenden Spender sein könnten. Einer habe, seines Wissens nach, auch schon Stammzellen gespendet.

Aber es gibt nach wie vor zu wenige Spender. Die Familie Keller hofft, dass Pius’ Geschichte noch mehr Menschen motiviert, sich bei der DKMS zu melden.

Für Pius endet die Geschichte bislang als Happy End. Indes, die Belastung für die Familie war enorm. "Die Zeit war extrem", so sieht es Jürgen Keller. Aber die Familie sei weiter zusammengerückt. "Alle sind stolz und glücklich, dass wir das geschafft haben." Sie seien die ganze Zeit von einer Welle der Unterstützung getragen worden. Das habe gut getan.

Bald kann Pius wieder das normale Leben eines Teenagers führen. In wenigen Wochen bricht er für drei Monate nach Amerika auf. Und damit erfüllt er sich einen Traum, der noch vor Jahresfrist für immer unerfüllbar schien.