Inklusion: Wahlveranstaltung der BruderhausDiakonie beleuchtet Situation von Menschen mit Behinderung
Fünf Politiker verschiedener Parteien gehen wohltuend sachlich und einfühlsam bei einer lebendigen und informativen Wahlveranstaltung auf die Fragen der Besucher ein, und der Nachmittag läuft ohne Polemik und ohne das übliche Wahlkampfgetöse ab.
Kreis Rottweil. Das, was heutzutage fast wie Fiktion klingt, war bei der inklusiven Wahlveranstaltung der BruderhausDiakonie im Kapuziner in Rottweil Realität. Marcel Griesser (CDU), Klaus Kirschner (SPD), Laura Halding-Hoppenheit (Linke), Hubert Nowack (Grüne) und Gerhard Aden (FDP) waren sich einig, dass es noch ein langer Weg ist, bis die Integration von Menschen mit Behinderung soweit in der Gesellschaft verankert und zu einem Stück Normalität geworden ist, dass die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zur Inklusion erfüllt sind.
Keiner der Politiker versuchte vorzugaukeln, er – beziehungsweise seine Partei – hätten ein Patentrezept, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Die Podiumsrunde veranschaulichte aber eindrucksvoll, wie komplex und wichtig die Aufgabe ist, Menschen mit Behinderung entsprechend ihrer Möglichkeiten ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Das Bruderhausteam um Iris Wössner und Nadja King hatte die Veranstaltung gründlich vorbereitet. So erarbeiteten Menschen mit Behinderung in Arbeitskreis-Sitzungen in Rottweil und Fluorn Fragen, die den Politikern zugeschickt wurden. Der Behindertenbeauftragte des Kreises Rottweil, Gerhard Winkler, verwies auf die UN-Behindertenrechtskonvention sowie das neue Behindertengleichstellungsgesetz, die die Richtung anzeigten, wie Inklusion künftig geschehen soll.
Nicht nur Bund und Land, sondern auch die Kommunen seien gefordert, wenn es beispielsweise um ein barrierefreies Wohnumfeld oder barrierefreien ÖPNV gehe. Kirschner konzentrierte sich auf das Gebiet Arbeit. Menschen mit Behinderung hätten, wie jeder Mensch, Anspruch auf bezahlte Arbeit. Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete skizzierte die zwei Bereiche, in denen Menschen mit Handicaps in Arbeit kämen: zum einen die in seinen Augen unverzichtbaren beschützten Werkstätten, zum anderen den ersten Arbeitsmarkt. Ein inklusiver Arbeitsmarkt sei anzustreben. Hier, wie insgesamt beim Thema Inklusion, herrsche ein enormer Nachholbedarf.
Kirschner führt als Beispiel den in vielen Fällen nicht barrierefreien ÖPNV und Bahnverkehr an. Griesser, der während seines Zivildienstes Kontakt mit Menschen mit Behinderung hatte und dabei deren vielfältige Probleme kennenlernte, bekräftigte: "Es ist Zeit, dass auch Menschen mit Behinderung vom wirtschaftlichen Aufschwung in unserem Land profitieren." Für den Kreisvorsitzenden der Jungen Union ist Arbeit ein wesentliches Mittel für Menschen mit Behinderung, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Griesser sieht es auch als wichtigen Schritt an, dass es Menschen mit Behinderung nun per Gesetz leichter gemacht worden sei, zu heiraten.
Aus Sicht von Hubert Nowack sollten die Menschen mit Behinderung wieder mehr ins Dorfleben integriert werden. Der Bundestagskandidat der Grünen mahnte mehr sozialen und damit bezahlbaren behindertengerechten Wohnungsbau an. Am Beispiel seines eigenen Betriebs zeigte der Chef einer Zimmerei auf, dass die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt differenziert zu sehen ist. Manche Arbeitsplätze seien dafür ungeeignet.
Für Gerhard Aden muss die Definition von Behinderung differenziert betrachtet werden. Der FDP-Landtagsabgeordnete und Kreisrat spricht sich daher für eine individuelle Behindertenpolitik aus, die sich an den je nach Art und Grad der Behinderung sehr unterschiedlichen Bedürfnissen ausrichten müsse.
Laura Halding-Hoppenheit, Bundestagskandidatin der Linken im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen, hieb in die gleiche Kerbe wie ihre Vorredner. Die Stadträtin in Stuttgart fordert die Einstellung von mehr Lehrkräften und besser ausgestatteten Schulen, damit die Inklusion von Schülern in der Praxis auch umgesetzt werden könne. Auch müssten bürokratische Hürden für Menschen mit Behinderung auf ihrem Weg zu einem selbst bestimmten Leben abgebaut werden.
Starker Beifall belohnte die Ausführungen aller fünf Politiker. In der von der Beraterin für Personalentwicklung, Ursula Schullerus, souverän moderierten, lebhaften Diskussionsrunde setzten sich Kirschner, Griesser, Nowack, Aden und Halding-Hoppenheit mit ganz verschiedenen Fragen auseinander: nach den persönlichen Erfahrungen mit Menschen mit Handicaps, nach der Förderung des sozialen Wohnungsbaus, nach der inneren Sicherheit, nach dem Schutz vor sexuellem Missbrauch, nach dem bedingungslosen Grundeinkommen. Eine betroffene Besucherin skizzierte ihr Dilemma. "Ich bin aufgrund meiner Behinderung zu stark für die Werkstatt, aber zu schwach für den ersten Arbeitsmarkt. Was soll ich tun."
Am Schluss waren sich alle einig: Das war eine gute, in gewisser Hinsicht außergewöhnliche Wahlveranstaltung, die den Anliegen der Menschen mit Behinderung gerecht wurde.