Schicksal: Das Erdbeben hat Giustino Parisse und Dina Sette das Liebste genommen / Haus immer noch nicht wieder aufgebaut
Rottweil/L’Aquila. Zum zehnten Jahrestag des schweren Erdbebens in L’Aquila setzen wir in der Partnerstadt Rottweil ein Zeichen der Erinnerung durch persönliche Interviews von Betroffenen in L’Aquila.
Die Interviewpartner stellen sich vor: Mein Name ist Giustino Parisse, ich bin 59 Jahre alt und lebe zusammen mit meiner Frau Dina Sette, welche 57 Jahre alt ist, in Onna.
In der Nacht des 6. April 2009 befanden wir uns in unserem Zuhause in Onna, zwischen Via Oppieti und Via dei Calzolai. Das Haus wurde durch das Erdbeben völlig zerstört. In der Nacht verloren wir unsere beiden Kinder, Domenico (18 Jahre) und Maria Paola (16 Jahre), die in den Zimmern neben dem unsrigen schliefen. Auch der 74-jährige Vater Domenico starb. Meine Mutter Maria blieb fast vier Stunden unter den Trümmern begraben. Sie lebt jetzt bei uns und ist 85 Jahre alt. Mein Bruder Renzo konnte sich auf wundersame Weise unverletzt aus seinem teilweise eingestürzten Haus retten.
Er und auch meine Mutter konnten nach dem Erdbeben bei meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, wohnen. Zuerst in einem Haus in der Nähe von Pescara und dann in einem sicheren Haus in einem nahe gelegenen Dorf. Meine Frau und ich kamen im Haus meines Schwagers in Pizzoli unter, einer Stadt, 20 Kilometer von Onna entfernt. Für mehr als einen Monat haben wir zur Sicherheit in einem Zelt vor der Siedlung geschlafen. Das Zelt war vom Zivilschutz zur Verfügung gestellt worden. Am 25. September 2009 konnten wir ein provisorisches Holz-Haus in dem neuen Dorf beziehen, welches durch Gelder des Internationalen Roten Kreuzes und mit der Unterstützung der Handwerker des Trentino Alto Adige errichtet worden war. Jeden Tag kamen wir nach Onna, um mit den Dorfbewohnern zu Mittag zu essen.
Der Wiederaufbau der Stadt L’Aquila ist heute nach zehn Jahren etwa zur Hälfte beendet. Die Teilorte und Dörfer der Gemeinde liegen hingegen weit zurück. Mancherorts hat der Wiederaufbau noch gar nicht begonnen, beispielsweise in Teilen des historischen Zentrums der Stadt. An der Peripherie schaut es glücklicherweise etwas besser aus.
Die Situation in Onna ist schwierig: Einige Baustellen wurden eingerichtet (sieben von 21) lediglich eine Famile (von 90) ist in ihr zerstörtes und wieder aufgebautes Haus zurückgekehrt. Dank der deutschen Regierung wurde unsere Kirche wieder errichtet. Das war eine große Erleichterung. So hatten wir einen Ort wiedergefunden, welcher uns sehr teuer ist.
Vom eigenen Geld habe ich ein kleines Haus errichtet. Das Haus, in dem ich wohnte und in welchem 2009 meine Kinder und mein Vater starben, muss nach zehn Jahren immer noch aufgebaut werden. Ich hoffe, dass die Baustelle 2019 eröffnet werden kann. Für zweieinhalb Jahre lebte ich in einem provisorischen Haus und bezog schließlich 2012 das Haus, welches ich, wie erwähnt, selber erbaut habe. Dabei habe ich mich ziemlich verschuldet. Ich brachte meine Bibliothek mit über 12 000 Büchern ins neue Haus sowie ein Archiv der Geschichte Onnas, meiner Heimat. Alles Material, das ich aus den Trümmern retten konnte. Vor dem jetzigen Haus befindet sich der Obstgarten der Erinnerung, eine maßstabsgetreue Rekonstruktion des Platzes von Onna vor dem Erdbeben, eine Krippe, welche ich nie entferne und viele landwirtschaftliche Geräte meines Vaters, welcher Bauer war.
Nach dem Erdbeben haben ich und meine Frau weiter gearbeitet. Ich, als Journalist für die lokale Tageszeitung "Il Centro" und meine Frau an der Universität von L’Aquila. Die Erinnerung an unsere Kinder, die Arbeit, das soziale Engagement und der Glaube hat uns geholfen, zusammen zu bleiben. Der Schmerz jedoch ist immens und manchmal erscheint alles sinnlos. Wir machen jedoch weiter und suchen jeden Tag die Kraft, um einen Sinn in unserem Tun zu finden.
Der schleppende Wiederaufbau verleiht der Gemeinschaft von Onna nicht wirklich Kraft, viele junge Menschen wirken entmutigt. Wir haben jedoch die Aufgabe dafür zu sorgen, unserer Heimat nicht nur die Häuser, sondern auch das Bewusstsein zurückzugeben, das zu einem Stück Geschichte gehört. Wir müssen dafür sorgen, das Dorf so schön wie möglich zu gestalten, mit seinem Charme und mit der der Schönheit der Straßen, welche auf bestmögliche Art und Weise beleuchtet werden. Und schließlich gilt es, der Jugend Arbeit und Sicherheit für die Zukunft zu geben, um sie zum Bleiben zu überzeugen.
Heute ist die größte Gefahr die Resignation. Viele ältere Menschen sind verstorben, ohne wenigstens den Beginn des Wiederaufbaus des eigenen Heims erlebt zu haben. In der Stadt, ich meine in L’Aquila, gibt es große kulturelle Bestrebungen und auch wir in Onna versuchen, Gelegenheiten zu schaffen, um sich zu begegnen. Wir bemerken jedoch, dass viele die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben haben. Das heißt nicht, dass man sich nicht mehr im sozialen Umgang engagiert, aber die größte Gefahr ist, dass dieser Unmut vor allem die Jugend trifft. Hier in Onna, aber auch anderswo, bemerken wir großes Desinteresse, es gibt Jugendliche, welche nie eine richtige Schule, ein richtiges Zuhause oder eine richtige Stadt gesehen haben. Genau das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen: der Jugend eine Hoffnung geben. Es wird nicht einfach sein, doch müssen wir es bis zum letzten Atemzug versuchen. n Die Fragen stellte Heide Friederichs.
Wie waren Sie und Ihre Familie von dem schweren Erdbeben in L’Aquila betroffen? Haben Sie persönlich Schaden genommen in dieser Erdbebennacht und wo sind sie unmittelbar danach untergekommen? Wann sind Sie nach den Notunterkünften in andere Wohnungen gekommen?
Der Wiederaufbau in L’Aquila, Onna, Paganica und anderen Paese hat sehr lange auf sich warten lassen. Wo sind Sie und Ihre Familien seither untergebracht? Wenn Sie zurückdenken, wie haben Sie die Zeit nach dem Erdbeben bis zum heutigen Tag erlebt? Was hat Ihnen Kraft gegeben, weder die Hoffnung noch den Mut zu verlieren und dabei den schleppenden Wiederaufbau in der Stadt L’Aquila ständig vor Augen zu haben?
Während des Wiederaufbaus haben viele Bürger selbst zur Schaufel gegriffen, zuerst Steine und Schutt weggeräumt, dann Zeichen des Protestes in vielen Aktionen gesetzt und von Anfang an haben Kunstaktionen das kulturelle Leben in den Ruinen der zerstörten Stadt aufrecht erhalten und fortgeführt. Wie sehen Sie heute die Zukunft für die Stadt und ihre Bewohner und für Sie ganz persönlich? Überwiegt eher Ohnmacht oder Zuversicht? Wie müsste sich die Stadt entwickeln, wenn nicht nur saniert und wiederaufgebaut, sondern auch ein gerechtes, soziales Miteinander der Bürger entwickelt werden soll?
Den Auftakttext zu den Interviews mit Bürgern aus L’Aquila finden Sie hier.