Um die Pflege geht es bei einem Info-Café des Sozialverbandes VdK. Foto: © Sandor Kacso – stock.adobe.com

Gerda Blechner greift Geschichten aus der Pflege auf und liefert Verhaltenserklärungen und Sensibilisierung.

Rottweil - Ein Schicksal brachte den Stein ins Rollen. Recherche, Forschung, Analyse. Nun hat Gerda Blechner ihr Buch veröffentlicht, in dem sie Misshandlungen in der Pflege beschreibt.

Es hagelt Schläge. Als Kind verkriecht sich die kleine Annemarie Schutz suchend unter dem Sofa, wenn sie die bedrohlichen und polternden Schritte ihres Peinigers hört. Ihrem Vater. Heute hat sie keine Angst mehr vor ihm. Heute ist er blind. Er ist hilflos ausgeliefert. Seiner Tochter, die sich täglich rächt. Sie schlägt ihn mit einer Peitsche. Sie stellt ihm Hindernisse in den Weg. Sie hat den Spieß umgedreht.

Was wie ein Horror-Szenario aus einem Film erscheint, ist eine von vielen Geschichten, die Gerda Blechner während ihrer Forschungsarbeiten zur Pflege erlebt hat. "Von wegen Überforderung als Grund für Misshandlung von Pflegebedürftigen" heißt ihr Buch.

Ein Schicksal macht aufmerksam

"Ganz kurios war das", beschreibt die Autorin den Auslöser für ihr Buch. In der Nähe von Stuttgart war sie in einem Park unterwegs, setzte sich zu einer älteren Dame auf eine Parkbank. "Sie war ganz klein und furchtbar mager. Ich habe gemerkt, dass es ihr nicht gut geht, dass sie Angst hat", schildert sie. "Sie wollte etwas sagen. Plötzlich ist sie von der Parkbank gefallen."

Der Rettungsdienst kam, nahm die Frau mit. Blechner fand die Tasche der Dame. Darin befand sich die Adresse sowie ein hartes Stück Brot. Die Frau starb im Krankenhaus. "Ich hatte das Gefühl, da stimmt etwas nicht." Da begann Blechner mit ihren ersten Recherchen.

Bei den Nachbarn erfuhr sie, dass die Verstorbene drei Jahre zuvor das Haus ihrer Tochter überschrieben hatte. Die Dame habe öfter im Container nach Essen gesucht. Das nahm Blechner zum Anlass, die Tochter aufzusuchen. Diese habe gefühlslos gesagt: "Ja das war meine Mutter". Dann erboste sie sich und rief: "Verschwinden Sie, das ist meine Mutter, mit der kann ich machen, was ich will."

Für Blechner war klar: Sie muss erkunden, ob es noch mehr solcher Schicksale gibt. Daraufhin suchte sie 100 Pflegebedürftige und Angehörige auf und betrieb Forschungsarbeit. Sie untersuchte, wie es in der Pflege läuft, welche Probleme es gibt, erzählt sie. Dabei will sie herausgefunden haben, dass Misshandlung auf vielfältige Art und Weise stattfinden kann. "Da muss man genau hingucken, das habe ich immer wieder gemerkt."

Mühevoll zusammengetragen

Ihr Buch ist wie eine Geschichte aufgebaut. Primär hat sich die Psychologin und Ethnologin der häuslichen Pflege gewidmet. Kontakte kamen über Bekannte zustande. Häppchenweise, teils mit ironischem Unterton, präsentiert Blechner Fälle, "authentisch und aus dem Leben gegriffen". Die Psychologin gibt ihren Lesern auch Tipps an die Hand, wie man mit schwierigen Situationen umgehen kann. Sie erläutert mögliche Gründe für das Verhalten der Menschen.

Neugierig habe sie sich alles notiert, was ihr aufgefallen sei, blickt Blechner auf die ein Jahr andauernde Forschungszeit zurück. Oft seien es Kleinigkeiten, die für die Pflegebedürftigen zermürbend sind, schildert sie und nennt als Beispiel eine rein funktional gestaltete Einrichtung ohne etwas Persönliches. Das könne sehr belastend sein. Im Gespräch berichtet sie auch von Medikamentenmissbrauch, bei dem zu Pflegende mehr Tabletten als nötig verabreicht bekommen.

Misshandlung und Ausbeutung hätten viele Gesichter, sagt sie. Diese könnten sowohl finanzieller als auch psychischer und körperlicher Art sein. "Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Misshandlung nur schlagen oder treten ist", stellt sie klar.

Ein Grund, der insbesondere in schwierigen Situationen im Alltag schnell zu Misshandlungen führen könne, resultiere aus dem Pflichtgefühl der Pflegenden, weiß die Psychologin. Viele pflegten, obwohl sie von den Voraussetzungen her gar nicht zur Pflege geeignet seien. Sie betont aber auch: "Die zu Pflegenden sind auch keine Engel."

Mit ihrem Buch möchte sie die Menschen für das Thema Pflege und Missbrauch in der Pflege sensibilisieren. Das sei ein Thema, das alle betreffe, denn "jeder wird mal alt und möglicherweise sogar pflegebedürftig".

Gerda Blechner wurde 1937 in Rottweil geboren. Sie war als Psychologin und Ethnologin weltweit tätig. Dadurch kam sie auch zur erweiterten Altersforschung. In Heidelberg machte sie eine Zusatzausbildung in der Schmerztherapie. Auch wenn sie heute in Rottenburg lebt, ist sie immer noch gerne in Rottweil. Blechner ging aufs AMG und freut sich auch heute noch, wenn sie ihre einstige Schule sieht. Für ihr Studium ist sie aus der Stadt der Türme weggezogen. Blechner hat zwei Kinder und auch Enkelkinder. Für ihr Buch hat sie ein ganzes Jahr lang geforscht.