Thomas Vogel ist am Mittwoch, 30. Januar, zu einem Vortrag in Rottweil. Foto: Vogel Foto: Schwarzwälder Bote

Vortrag: Erziehungswissenschaftler spricht in Rottweil über alte Tugenden

Rottweil. Maßlosigkeit und Mäßigung sind die Themen von Thomas Vogel, Erziehungswissenschaftler und Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er eröffnet am Mittwoch, 30. Januar, ab 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus, Johanniterstraße 30 in Rottweil, die Reihe "Wie kann gutes Leben gelingen?". Veranstalter sind die evangelische und katholische Erwachsenenbildung, die Lokale Agenda 21 und die Initiative Bewahrung der Schöpfung.  

Herr Professor Vogel, Ihr neues Buch trägt den Titel "Mäßigung – Was wir von einer alten Tugend lernen können". Wieso sollten wir von alten Tugenden lernen?

Wir stehen heute vor großen ökologischen Herausforderungen. Klimawandel, Artensterben, Vermüllung der Meere und vieles mehr zeigen, dass wir den Globus überfordern. Auf der anderen Seite wird das Leben in den Industriegesellschaften immer komplexer und überfordert immer mehr Menschen. Ähnlich der äußeren Natur wird auch der Einzelne immer häufiger krank und brennt aus. Um diese Probleme zu lösen, können wir von alten Weisheiten wie der Tugend der Mäßigung viel lernen.  

Ist Mäßigung oder maßvoll zu sein nicht eher ein altmodischer, langweiliger Wert?

Vordergründig gebe ich Ihnen recht: Mäßigung war bislang kein Ausdruck, der in einer Spaßgesellschaft Publikumspreise bekommt. Er klingt eher verstaubt, und viele Menschen assoziieren mit diesem Begriff eine Beschränkung ihrer Freiheit oder die Zügelung der Lust. Dies ist aber eine stark verkürzte und dadurch verfälschte Wiedergabe dessen, was die Philosophie seit der Antike mit der Tugend der Mäßigung verfolgte. Der Mensch sollte einen souveränen Umgang mit seinen Bedürfnissen erlangen. Ziel war die Befreiung im Sinne seiner Unabhängigkeit von den unmittelbaren Verhältnissen. Mäßigung könnte insofern heute ein modernes Gegenkonzept zu unserer zunehmend wachstumskranken Kultur sein.  

Exzessives Wachstum um jeden Preis ist das Paradigma unserer Zeit. Aber leben wir nicht ganz gut damit?

Man sollte bei dieser Frage, die ja durchaus immer noch eine weit verbreitete Auffassung repräsentiert, etwas genauer klären, wen man mit "wir" bezeichnet. Sind damit die siebenjährigen Kinder aus dem Kongo gemeint, die für ein bis zwei Dollar bei täglich zwölf Stunden Arbeit unter primitivsten Bedingungen im Bergbau Kobalt für unsere Smartphones oder E-Autos schürfen? Oder sind damit die weltweit reichsten acht Milliardäre gemeint, die so viel Vermögen wie die restliche ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzen? Und wenn man das "wir" nicht immer noch so ganz selbstverständlich allein auf die Spezies Mensch bezieht: Was würden die vielen Tier- und Pflanzenarten, die wir durch unsere exzessive Lebensweise bereits ausgerottet oder an den Rand der Existenz getrieben haben, auf diese Frage antworten? Und nehmen wir noch die Zeitperspektive in den Blick: Können wir guten Gewissens auch noch unseren Kindern und Enkelkindern – egal aus welchen sozialen Schichten – garantieren, dass sie mit diesem Paradigma gut leben werden?  

Können wir verhindern, dass Mäßigung mit Verzicht und Opfer gleichgesetzt und deshalb abgelehnt wird?

Mäßigung ist nicht das gleiche wie Verzicht oder Opfer. Es geht vielmehr um die Förderung eines souveränen Umgangs des Menschen mit den eigenen Wünschen, Begierden und Antrieben. Wir brauchen ein rechtes Maß für den Umgang mit unserer Natur, und ein jeder sollte sich auf die Suche begeben nach seinem eigenen rechten Maß. Das ist keine Vorschrift, kein erhobener Zeigefinger, sondern ein Denkangebot, es geht hier um Aufklärung im Kant’schen Sinne: Um den "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" sowie der Forderung und Förderung des Mutes, sich (endlich) seines eigenen Verstandes zu bedienen.  

Was heißt für Sie persönlich Maß halten?

Es gibt keine mathematische Formel für das rechte Maß. Das sehen wir auch an unserem Umgang mit der Natur: Wir wissen nicht, wann beispielsweise das Klima umkippt oder wann wir zu viele Arten ausgerottet und uns dadurch die Lebensgrundlagen genommen haben. Ähnlich verhält es sich auch mit der menschlichen Psyche. Auch sie ist bis zu einem bestimmten Punkt belastbar und kann sich regenerieren; wird sie aber überbeansprucht, kann es zu einem Nervenzusammenbruch, eine Depression oder einem Burn-out kommen. Jeder Mensch hat ein Gespür für sein rechtes Maß. Eine besonnene Gelassenheit kann man erlangen, indem man sich in Phasen der Ruhe und des Verzichts auf sich selbst besinnt. Das können beispielsweise Phasen sein, in denen man den Kontakt zur Natur sucht, etwa beim Wandern, oder in denen man das Handy beiseitelegt, "leere" Zeit aushält, einfach mal abschaltet. Auch das Fasten, wie es in unterschiedlichen Formen in allen Weltreligionen praktiziert wird, hilft bei der Suche nach dem rechten Maß.  Die Fragen stellte Jutta Steffens.

Bevor Thomas Vogel seine Hochschullaufbahn antrat, war er mehrere Jahre Berufsschullehrer und Dozent in der beruflichen Weiterbildung. Sein neues Buch trägt den Titel "Mäßigung – Was wir von einer alten Tugend lernen können". Darin beschäftigt er sich mit den philosophischen und religiösen Wurzeln der Kardinaltugend der "Mäßigung" vor dem Hintergrund des "gegenwärtigen verschwenderischen naturzerstörerischen Lebensstils" der Industriegesellschaft.