Die Suche nach der Wahrheit im großen Drogenprozess gestaltet sich schwierig. Ingo Lenßen fragt bei der Vernehmung des Kronzeugen hart nach. Foto: Ralf Graner Potodesign

Anklage fällt immer mehr in sich zusammen. Gespräche über eine mögliche Verständigung.

Kreis Rottweil - Die Anklage im Prozess um die mutmaßliche Drogenbande am Rottweiler Landgericht gerät ins Wanken. Am elften Verhandlungstag verstrickt sich der Kronzeuge immer mehr in Widersprüche - und will nach einer fünfstündigen Vernehmung doch lieber schweigen.

Die Verteidiger sprechen von einem Skandal, und das große Rätselraten geht weiter. Mittlerweile zweifeln nicht nur die Anwälte an der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen, der gegen die neun Angeklagten ausgepackt hat und auf dessen Aussagen sich die Anklage hauptsächlich stützt. Bereits am Dienstag hat die Staatsanwaltschaft angekündigt, Gespräche über eine mögliche Verständigung führen zu wollen. Der Prozess könnte so viel früher als geplant beendet werden.

Die Frage, die viele Beteiligte fassungslos macht: Warum haben die Ermittler dem 52-jährigen Libanesen so grenzenlos vertraut? Warum haben sie nicht konsequent seine Vergangenheit und seinen Lebenslauf durchleuchtet? Warum hat die Staatsanwaltschaft nichts hinterfragt? Hat sie die Aussicht auf einen ganz großen Fang - eine mutmaßlich international agierende Dealer-Bande - so geblendet?

"Es gab kein zweites Verfahren"

Auch am elften Verhandlungstag stehen nicht die neun Angeklagten, sondern wieder der Kronzeuge im Mittelpunkt des Verfahrens. Der Auszug aus dem bulgarischen Strafregister wirkt ernüchternd: Der Libanese soll 2006 wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln, psychotropen Stoffen und Drogenausgangsstoffen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden sein. Er soll Mitglied - oder je nach Übersetzung sogar Chef - einer kriminellen Vereinigung gewesen sein. Diese Bande hat vermutlich in einem Labor in Sofia (Bulgarien) Captagon-Tabletten hergestellt.

Im Rahmen eines Deals mit der Staatsanwaltschaft wurde die Strafe des Libanesen damals auf sechs Jahre reduziert. Nach fünf Jahren und vier Monaten wurde er vorzeitig entlassen - und fing nach eigenen Angaben an, für die bulgarische Polizei als Vertrauensperson zu arbeiten. 2011 gab es ein anderes Urteil, auch hier ging es um Drogenherstellung. Eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten wurde verhängt.

Von dieser zweiten Strafe will der Kronzeuge nichts gewusst haben. "Es gab kein zweites Verfahren", beteuert er vor der ersten Großen Strafkammer. Und Bandenchef sei er auf keinen Fall gewesen. Insgesamt sieben oder acht Mal habe er im Labor vorbeigeschaut. Auf intensive Nachfrage des Vorsitzenden Richters Karlheinz Münzer gibt der Kronzeuge dann aber doch zu: "Es waren sieben Mal à sieben Tage." Gut informiert war er über Maschinen und Produktionsprozesse. So schildert er, dass 30 Tabletten pro Pressvorgang hergestellt, je 275 Tabletten in eine Tüte verpackt und weiter an den Vertriebsmann, einen Italiener, übergeben wurden.

Kronzeuge tischt immer wieder neue Versionen auf

Aus Bulgarien sei er geflohen, weil er Probleme mit der Mafia gehabt habe: An dieser Geschichte hält der Kronzeuge fest. Sonst tischt er bei Fragen nach gleichen Personen und Orten immer wieder neue Versionen auf.

Verlässlich und gut strukturiert - so hat der zuständige Ermittler bei seiner Vernehmung vor einigen Wochen den Kronzeugen geschildert. Davon merkt man im Prozess nur wenig. Zweifelsohne ist die mehrstündige Befragung anstrengend - doch der Zeuge liefert solch eklatante Widersprüche, dass die Beteiligten, Vorsitzender Richter Karlheinz Münzer mit eingeschlossen, nur den Kopf schütteln können. Ausweichende Antworten auf direkt gestellte Fragen, Erinnerungslücken, Verwechslungen: Das sieht auch auf den zweiten Blick alles andere als glaubwürdig aus. "Strengen Sie sich bitte an", fordert Münzer.

Hat er vergangene Woche noch von Handelsgeschäften mit Walnüssen in Bulgarien erzählt, spricht er diesmal von einer KfZ-Werkstatt. Und so geht es Thema für Thema weiter. Die Suche nach der Wahrheit gestaltet sich qualvoll.

TV-Anwalt: "Überlegen Sie, ob Sie nicht geistig krank sind!"

Der TV-Anwalt Ingo Lenßen geht bei seiner Befragung ziemlich weit. "Leiden Sie unter Größenwahn?" fragt er unvermittelt. Und: "Überlegen Sie, ob Sie nicht geistig krank sind!" Er beantragt eine psychiatrische Untersuchung des Zeugen.

Nach einer kurzen Pause kündigt dieser an, von seinem Schweigerecht Gebrauch machen zu wollen, um sich mit seinen Aussagen nicht selbst strafbar zu machen. Die Vernehmung ist beendet, der erschöpfte Zeuge wird entlassen. Die Kammer, die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger treffen sich zu Gesprächen, von denen nun unter anderem abhängt, wie es mit dem Prozess weitergeht.