Die Spuren zeigen es. Auf der gesamten Länge des Bahnübergangs in Aistaig setzen Fahrzeuge immer mal wieder auf der Straße auf. Passiert ist nichts. Noch nicht. Fotos: Schulz/privat Foto: Schwarzwälder-Bote

Bahn weicht bei Fragen nach Sicherheit der Fahrgäste aus / Verkehrsexperte fordert mehr Engagement

Von Armin Schulzund Corinne Otto

Kreis Rottweil/Zollernalbkreis. Lebensgefährlich Verletzte bei einem Bahnunfall in Talhausen, ein Toter nach einem Zugunglück in Albstadt. Das ist die jüngste Bahn-Bilanz in der Region. In dem Konzern wird viel von Sicherheit geredet. Aber wie sicher ist die Bahn wirklich? Wir schauen genauer hin.

Wir messen 22 Sekunden. So viel Zeit bleibt, wenn man mit dem Auto auf dem Gleisbett liegen geblieben ist und es weder vor- noch zurückgeht. 22 Sekunden liegen zwischen dem Zeitpunkt, in dem die beiden Halbschranken am Bahnübergang in Talhausen heruntergehen und dem Eintreffen des Regionalexpresses aus Oberndorf. Der Zug saust mit 80 bis 100 Stundenkilometern durch die Kurve und an uns vorbei. Die Bahngleise sind leicht geneigt, die Straße über den Schienen hat einen deutlichen Buckel. Irgendwie schief das Ganze.

In Talhausen ist Anfang des Monats ein Tieflader hängengeblieben. Mehr als 45 Tonnen schwer war er. Dabei war die Straße lediglich für Fahrzeuge von maximal 3,5 Tonnen zugelassen. Ein Zug raste in den Laster, über 30 Fahrgäste wurden verletzt, einige lebensgefährlich. Ein Wunder, dass niemand tödlich verunglückte.

Bahnsprecher sagt: Verkehrsteilnehmer müssen sich eben korrekt verhalten

Ein klarer Fall für die Bahn: Der Lastwagenfahrer hat Schuld. So direkt sagen die das uns natürlich nicht. Ein Bahnsprecher äußert auf Anfrage des Schwarzwälder Boten: "Ein korrektes Verhalten ist für den Bahnübergang-Benutzer nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern oberstes Gebot." Juristisch betrachtet mag das stimmen. Ob es aber nicht doch an der etwas zu hohen Kuppe liegen könnte?

Der Ball wird an die Verkehrsteilnehmer zurückgespielt. Einer davon ist in Albstadt-Laufen bei einem schrecklichen Unglück am Samstag ums Leben gekommen. 79 Jahre alt ist er geworden. Ermittlungen der Polizei zufolge muss er bei Rotlicht auf den Bahnübergang gefahren sein. Dort blieb das Auto einfach stehen. Warum, weiß man nicht.

Und dann ging alles sehr schnell. Die Bahnschranken senkten sich, Sekunden später erfasste ein in Richtung Balingen fahrender Interregio-Express den Wagen, schleifte ihn 150 Meter weit. Fußgänger, die helfen wollten, konnten nichts mehr ausrichten. Der Fahrer starb am Unfallort.

Was sagt die Bahn? Die Verkehrsteilnehmer müssten sich eben korrekt verhalten: Wenn die Signalanlage Rot zeigt, ist anzuhalten. Ansonsten weiß der Bahnsprecher keine Antworten auf Fragen, wie diese, ob es nicht technische Hilfsmittel gebe, mit denen Bahnübergänge besser überwacht werden könnten und was diese kosten würden?

Natürlich gibt es die. Franz Schilberg ist Verkehrssicherheitsingenieur aus Bergisch-Gladbach. Er befasst sich seit Jahren mit folgenschweren Verkehrsunfällen in ganz Deutschland. Wir telefonieren in den vergangenen Tagen mehrere Male miteinander. Er verweist auf Radarsysteme, die die Bahn einsetzt. Damit lässt sich jeder Gegenstand erfassen, der sich auf Bahnübergängen befindet.

Derartige Systeme werden indes nur bei sogenannten vollbeschrankten Übergängen eingesetzt, also nur da, wo die Gefahr besteht, dass Autos, Lastwagen oder Busse durch die gesenkten rot-weißen Balken eingeschlossen werden und nicht mehr herauskommen. Doch diese Radaranlagen sind teuer, 80 000 bis 100 000 Euro kostet ein System, schätzt Schilberg. Es gibt auch andere Möglichkeiten: Mittels Induktionsschleifen ließen sich metallische Gegenstände (beispielsweise Lastwagen oder Autos) aufspüren.

Schilberg fordert, kritische Bahnübergänge wie die in Talhausen und Laufen grundsätzlich mit einer sogenannten Gefahrenraum-Überwachung zu versehen. Das können Bahnbedienstete sein oder eben technische Mittel. Aber klar: das kostet Geld.

Das liebe Geld dürfte der Grund sein, weshalb die Bahn seit Jahren bestrebt ist, aus vollbeschrankten Bahnübergängen halbbeschrankte zu machen.

Das ist auch dem Bundesverkehrministerium aufgefallen. Es sieht diese Entwicklung kritisch. So zumindest lesen wir das Schreiben vom April 2012 an Anton Hofreiter, den jetzigen Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag: "Unter besonderer Betrachtung... ist grundsätzlich die Einrichtung von Vollschrankenanlagen zu bevorzugen", heißt es da. Allerdings räumt das Ministerium ein: "Es lässt sich aber allgemein feststellen, dass zum Beispiel die DB Netz AG einen größeren Anteil von Halbschrankenanlagen gegenüber Vollschrankenanlagen plant." Etwa zu Lasten der Sicherheit für die Verkehrsteilnehmer und die Fahrgäste der Bahn?, fragen wir uns.

Geld spielt natürlich eine große Rolle in dem Konzern, der seit seiner Gründung vor 20 Jahren auf Rendite getrimmt wird. Einst war sogar der Gang an die Börse geplant. Da kam es auf jeden Cent an. Dieses Denken beherrscht den Bahnbetrieb. In diesem Denken hat menschliches Versagen keinen Platz, bemängelt Schilberg.

In Talhausen gibt es jedenfalls kein Überwachungssystem. Dort ist an jeder Seite nur eine Halbschranke angebracht. Theoretisch könnten die Bahnübergang-Benutzer, ob sie nun mit dem Fahrrad oder dem Auto unterwegs sind, bei gesenkten Schranken das Gleisbett verlassen. Soweit die Theorie. Anfang Juli sah die Praxis anders aus.

Dabei könnte es so einfach sein: Ein Leser meldet sich in der Redaktion mit einem Vorschlag: "Jeder Zugführer hat vorn einen Monitor, bei dem immer der nächste Bahnübergang oder Bahnhof angezeigt wird. Mit der heutigen Technik und den unzähligen Webcams für ein paar Euro zu installieren. Der Zugführer muss nicht mal den Monitor bedienen, da immer die nächstmögliche Gefahrenstelle angezeigt wird. Ein Anhalten hätte dann funktioniert. Kein Toter, kein Schaden."

Bahnübergang in Oberndorf-Aistaig weist tiefe Spuren auf: Ist das noch sicher?

Aber so denkt und handelt die Deutsche Bahn AG nicht. Sie bewegt sich in Allgemeinplätzen. Der Bahnsprecher redet weiter von "höchsten Anforderungen an die Sicherheitsstandards im Eisenbahnwesen", die in Deutschland gestellt würden und zu erfüllen seien. Ob die Bahn angesichts der jüngsten Zugunglücke nicht doch darüber nachdenken möge, ihre Sicherheitssysteme (Schranken, Verkehrsschilder, Signalanlagen) technisch aufzurüsten? Geht nicht, braucht’s auch nicht, heißt es zwischen den Zeilen.

Ganz ähnlich tickt das Landesverkehrsministerium. Und das Eisenbahn-Bundesamt, das nach eigenen Angaben sich für die Durchsetzung von Fahrgastrechten einsetzt, verweist ebenfalls auf die Buchstaben des Gesetzes – auf Vorschriften, Richtlinien, Paragrafen, Gesetzestexte.

Was die Fahrbahngäste davon haben? Ob sie wissen, dass Fahren mit der Bahn beinahe einer Harakiri-Unternehmung gleicht, weil der Zugführer in den allermeisten Fällen nicht weiß, was ihn am nächsten Bahnübergang erwartet? Vielleicht steht da gerade einer und versucht, seinen Wagen wieder flott und von den Gleisen zu kriegen.

Wir gehen einem Hinweis nach. Zwei Brummifahrer haben sich unabhängig voneinander in der Redaktion gemeldet. Ihren Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen, auch nicht den Namen der Firma, für die sie fahren. Beiden ist etwas aufgefallen. Am Bahnübergang in Oberndorf-Aistaig gibt es tiefe Schleifspuren im Asphalt. Ein Fahrer berichtet, dass er mit seinem Lastwagen auch schon aufgesessen ist, mitten auf den Gleisen. Er hat ihn aber wieder runterbekommen. Vor Ort sind die Spuren deutlich zu sehen. Manche sind frisch. Der Übergang über die Gleise gleicht einer Welle. Eine Tonnagenbeschränkung wie in Talhausen gibt es nicht. Das kann so sicher nicht sein, wie die Bahn immer wieder behauptet. Der erste Kratzer im ansonsten so sauber scheinenden Bahn-Image?

Wir schreiben Volker Kauder an. Er ist Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen. Als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion ist er mit der wichtigste Gesprächspartner der Bundeskanzlerin. Er sagt: "Nach den Vorfällen muss man sich mit der Sicherheit an Bahnübergängen noch einmal neu beschäftigen. Ich werde dazu Gespräche mit Bahn, dem Eisenbahnbundesamt und dem Verkehrsministerium führen."

Wir werden Herrn Kauder beim Wort nehmen.

Gefangen

Die Verwaltungsspitze und der Gemeinderat in Rottweil hätten gerne das neue Großgefängnis. Sie machen fast alles, es doch noch zu bekommen. Doch machen sie es auch richtig? Der Versuch einer Antwort.

Von Armin Schulz

Auweia. Wenn man mal so tickt wie die Bahn, dann gute Nacht. Wir versuchen es dennoch: Stellen Sie sich vor, Sie bewegen sich auf einer Aussichtsplattform. Und anstelle eines Geländers weisen lediglich Warnschilder, Stoppsignale und rote Ampeln darauf hin, dass bald das Ende der Plattform erreicht ist und der Fall in die Tiefe droht. Und wenn Sie dann doch weitergehen, den einen Schritt zu viel machen? Pech. So ähnlich denkt die Bahn. Dabei dürfte es heute kein Problem sein, Züge und Bahnübergänge technisch so auszustatten, dass der Zugführer jederzeit Bescheid weiß, was sich auf den Gleisen tut und tummelt. Gewiss: Ein Restrisiko wird es immer geben. Aber mit dem richtigen Überwachungssystem hätte die Bahn die Unfälle in Talhausen und Laufen vermeiden können. Sie hat es nicht, weil sie Geld sparen will. Auf Kosten aller Verkehrsteilnehmer.