1918: Vor 100 Jahren: Vom schneidigen Burri bis hin zu verlausten Ackerbohnen und 80 Pfennigen für ein Ei

Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird im August 1918, zu Beginn des fünften Kriegsjahres, größer und größer. Während auf der einen Seite hehre Worte billiger zu bekommen sind als Brot, sprechen Tatsachen eine andere Sprache.

Rottweil. Eine triste Rolle spielen in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs die damals entscheidenden Entscheidungsträger im deutschen Kaiserreich: Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, seit August 1916 Chef der Obersten Heeresleitung, und sein Erster Generalquartiermeister, Generalleutnant Erich Ludendorff. Sie bestimmen weitestgehend Kriegsführung und Politik – Kaiser und Reichsregierung nutzen Stellung und Spielraum, die sie kraft der Verfassung haben, nicht.

Die beiden Militärs sind verantwortlich für verschiedene Entscheidungen, die sich als nachteilig für Deutschland erweisen und/oder den Krieg verlängern – wie den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika führte (April 1917), die Ablehnung, vorurteilsfrei über einen Verständigungsfrieden zu verhandeln (1916/17), und den harten Frieden von Brest-Litowsk (März 1918), der für die junge Sowjetunion ähnlich desaströs in Auswirkung, Wahrnehmung und Empfindung ist, wie der nicht minder harte Frieden von Versailles für Deutschland (28. Juni 1919). Die I-Tüpfelchen in dieser Reihe sollten jedoch noch folgen.

Einerseits das Abwälzen der Verantwortung. Zivilisten "dürfen" sich ab Oktober um den Waffenstillstand kümmern. Und diese machen es sogar (Einer von ihnen, Matthias Erzberger vom Zentrum, bezahlt am 26. August 1921 mit seinem Leben, auf ihn wird in Bad Griesbach ein Attentat verübt). Andererseits das Aufkommen der Dolchstoßlegende (Dem siegreichen Heer sei die Heimat in den Rücken gefallen) gerade von denen, die es genau und vor allem besser wussten. Jene vergiftet die politische Kultur vor allem in den schwierigen Jahren der Weimarer Republik.   Philosophisches Doch soweit ist es im Sommer 1918 noch nicht. Die Leser der in Rottweil erscheinenden Schwarzwälder Bürgerzeitung (56. Jahrgang) werden mit heroischen Worten und der harten Wirklichkeit gleichfalls konfrontiert.

König Wilhelm von Württemberg verkündet am 1. August im Manifest "An meine Truppen", dass die "neid- und haßerfüllten Feinde" zu Verhandlungen nicht bereit seien, dass ihr Ziel die Vernichtung Deutschlands sei. "Es gilt also weiterzuführen den uns aufgezwungenen Kampf (...) um das Vaterland und den eigenen Herd, um Sein und Nichtsein."

Es ist am 6. September zu lesen, dass der moralische Zusammenbruch Deutschlands die einzige Siegesmöglichkeit der Entente sei.

Es wird von schwäbischen Helden berichtet wie am 12. September über Unteroffizier Hieronymus Burri (Dunningen) vom Grenadier-Regiment Nr. 119 im Feldzug gegen das "treulose Italien". Es fallen die Attribute kühn und schneidig, als er an der Spitze seiner mutigen Schar die Verteidiger eines Bahnhofs überrumpelte. Burris Lohn: die goldene Militär-Verdienstmedaille von Seiner Majestät, dem König.

Und es gibt Artikel wie jenen vom Freitag, den 13. September mit Hindenburgs Parole "Der Geist, der unbesiegbar macht". Hier heißt es, dass "der Feind weiß, daß der Geist, der unseren Truppen und unserem Volke innewohnt, uns unbesiegbar macht". Über das Fragile der Lage wird sinniert. Dass Deutschland zu lange uneins in sich gewesen sei. Nicht nur die einzelnen deutschen Stämme schieden sich leichter in ihren Auffassungen als die französischen und englischen Stämme, auch die Rechthaberei und die geistige Selbstständigkeit des einzelnen deutschen Mannes, sein Individualismus im Gegensatz zum politisch-nationalem Herdensinn sei stärker ausgebildet. Und weiter: Dies erzeuge die Vielseitigkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, aber zugleich die Verwundbarkeit seiner geistigen Kraft, wenn sie als einheitliche Größe auftreten soll.   Vaterländisches Vielseitig sind sie, die vaterländischen Pflichten. So sei es vaterländische Pflicht, jede irgendwie entbehrliche Menge an Most abzuliefern. Wegen geringen Obsternten und eines erheblichen Mangels an Getränken bestehe ein außerordentlicher Bedarf an Most, schreibt das königliche Oberamt am 15. September. Schließlich seien im Vorjahr durch der reichen Obsternte große Mengen Most eingelegt worden.

Eine bedeutendere vaterländische Pflicht ist – natürlich – das Zeichnen der neunten Kriegsanleihe. Es wird um Mittel geworben, die "das Heer im Verteidigungskampf um die Heimat" benötige. Am 22. September sogar auf einer ganzen Zeitungsseite (5,0 Prozent: Deutsche Reichsanleihe, 4,5 Prozent: Deutsche Reichsschatzanweisungen; die Kündigung dieser Schuldverschreibungen durch das Deutsche Reich seien frühestens zum 1. Oktober 1924 möglich). Dieses Angebot des Reichsbank-Direktoriums besteht vom 23. September bis zum 23. Oktober, mittags 1 Uhr. Im Oberamtsbezirk Rottweil seien 6 115 800 Mark auf die neunte Kriegsanleihe gezeichnet worden, wird am 8. November mitgeteilt.   Mangel Die Heimat wiederum muss sich laufend mit dem Mangel in vielen Lebensbereichen auseinandersetzen. Ab dem 5. August wird die wöchentliche Fleischmenge reduziert: in Stuttgart auf 200 Gramm, in den übrigen Gemeinden auf 150 Gramm (und 75 Gramm für Kinder bis sechs Jahre).

Vier fleischlose Wochen bis Ende Oktober werden eingeführt. Als Grund nennen die Behörden (Reichsfleischstelle) die starke Verminderung des Schweinebestands und die Schonung des Rinderbestands, der nahezu allein die Last der Fleischversorgung trage. Ersatz in den fleischlosen Wochen sollen Mehl und Kartoffeln liefern. Jedenfalls wird jener vom Kriegsernährungsamt zugesichert.

Sichtbar wird dieses Manko bald. Die Reichsfleischkarten sind im September kleiner: Sie bestehen nur noch aus 30 Abschnitten, zehn werden wegen der fleischlosen Woche im September weggelassen. Als Ersatz verspricht das Oberamt 185 Gramm Mehl und sieben Pfund Kartoffeln.

Die Ernteaussichten in Württemberg, am 10. August in der Schwarzwälder Bürgerzeitung aufgeführt, verheißen nur bedingt Gutes. Von geringen Erträgen wird im Zusammenhang mit Kartoffeln, Ackerbohnen (Blattläusebefall) und Hopfen (Missernte) berichtet. Besser sieht es bei Wintergerste (recht befriedigende Erträge), Winterroggen (gut) und Winterweizen (recht vielversprechend in vielen Gegenden) aus. Als erfreulich werden Rapssaaten (gute Erträge), Erbsen (gut) und die Weinberge (gute Ernte in Aussicht) genannt.   Ärgernis "Kühne und gewinnsüchtige" Verkäufer ignorieren am Rottweiler Wochenmarkt die festgesetzten Höchstpreise für Obst. So verlangen sie am Samstag, 10. August, für ein Pfund Pflaumen 1 Mark statt 42 Pfennige. Kontrollen sollen es richten. Doch die Redaktion der Bürgerzeitung gibt mit Blick auf ähnliche Erfahrungen in anderen Orten zu bedenken, dass die Ware vom Markt verschwinde, wo kontrolliert werde.

Ein weiteres Ärgernis scheinen Hamsterer im Großherzogtum Baden zu sein. Darauf weist das Bezirksamt Villingen Anfang August hin. Fremde Kurgäste werden ermahnt: "Sei froh und dankbar, daß Du überhaupt in dieser Kriegszeit einige Wochen in unserem Schwarzwald zur Erholung weilen kannst." Sauer aufgestoßen ist außerdem, dass "Kurgäste von der Sorte der Kriegsgewinnler" in Bauernhäusern von 5 bis zu 28 Mark für ein Pfund Butter und bis zu 80 Pfennige für ein Ei bieten.

Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gestaltet sich immer diffiziler (Die Mittelmächte sind ja seit der Seeblockade im Prinzip auf sich selber angewiesen). Während versucht werden soll, Mehl- und Brotpreise so niedrig wie möglich zu halten, verlängert das Ministerium des Inneren die Schusszeiten für einzelne Wildarten (17. August): für Fasane, Rebhühner und Wachteln bis zum 20. August, für Rehgeißen und weibliche Kitze bis zum 31. Dezember, für Hasen bis zum 31. Januar 1919 und für männliches und weibliches Rotwild bis zum 28. Februar 1919.

Ersatz wie Kunsthonig oder Knorr-Artikel ist notwendig. Verkaufsstellen können ihre Anteile am 21. August, 10 Uhr, im Kaufhaus abholen lassen, ist am besagten Montagmorgen in der Bürgerzeitung zu lesen.

Bei Marmeladen für 1919 soll mit größeren Mengen an Streckungsmitteln gearbeitet werden, da die bisherige Obsternte zu wünschen übrig lasse. Am 30. August wird empfohlen, mehr Mohrrüben als Streckungsmittel beizugeben als vergangenes Jahr (maximal zehn Prozent). Trotz des Wissens, dass Rübenmarmelade "vor zwei Jahren sehr ungern gekauft wurde". Solle man also gutes Obst und Zucker für Marmelade, die niemand möge, verwenden?

Und es wird darauf hingewiesen, Heizanlagen instandzusetzen für die Heizzeit 1918/19. "Die zur Verfügung stehenden Kohlenmengen werden nur dann genügen, wenn sie mit alleräußerster Sparsamkeit verwendet werden." Nicht viel besser sieht es für das Vieh aus: Die Heu- und Oehmdernte sei laut Landesfuttermittelstelle sehr gering ausgefallen.

So verwundert es kaum, dass eine weitere Verteuerung angekündigt wird: von den Verlagen in Württemberg. 165 Zeitungen betrifft es. Im Zusammenhang mit Druck- und Papierpreisen wird von einer erheblichen Verteuerung gesprochen. Deshalb kostet das Abonnement ab Oktober 15 Pfennig mehr. Die Schwarzwälder Bürgerzeitung in Rottweil verlangt vierteljährlich 2,75 statt bisher 2,30 Mark.   Heiteres Jenseits aller Tristesse, Tragik und Trauer – Todesanzeigen mit "Heldentod" und "nach mehr als vierjähriger treuester Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes" – wird Ablenkung angeboten und blüht Humor (wenn auch nicht unbedingt immer feinsinnig). Sei es der Gedankenleser Talarso, der mit Hypnose- und Magnetismus-Experimente im "Pflugsaal" am 4. August sein Publikum verblüfft. Ein Vorläufer des legendären "Dr. Caligari" von 1920?

Seien es Anzeigen für ein Mittel gegen zerrissene Strümpfe gegen einen Obolus von 2,10 Mark. Nach dem Bezahlen kommt eine Karte mit der Nachricht: "Gehen Sie barfuß!" Ähnlich gelagert ist das Mittel gegen abstehende Ohren für 8,50 Mark. Der Kunde bekam eine kleine Schachtel mit Leim und die Gebrauchsanweisung, seine Ohren an den Kopf zu kleben. Sein Geld sah der Geleimte natürlich nicht mehr.   Randnotiz Der Nachricht in der Schwarzwälder Bürgerzeitung am 12. September, dass am Montag, 16. September, die Sommerzeit um 3 Uhr ende, klingt selbst nach 100 Jahren vertraut. Nicht wenige sind dankbar für den Hinweis, die Uhr auf 2 Uhr zurückzustellen.