Er wollte schon zwei Mal fliehen: Der Angeklagte Iyad B. nach dem Prozess, kurz vor der Abfahrt in die Haftanstalt. Foto: Lück

Zweiter Angeklagter Iyad B. wollte schon zwei Mal flüchten. Lügt der staatenlose Palästinenser?

Rottweil/Horb - Das ist wie ein Schlag in die Magengrube des syrischen Flüchtlings Mohammed O.: Wird er allein wegen Mordes an Michael Riecher verurteilt?

Weil O.s zweiter Verteidiger Alexander Hamburg später kommt, lässt Richter Karlheinz Münzer von den Dolmetschern als Sprachsachverständige noch Übersetzungen von Whats-App Protokollen zwischen O. und seinem Bruder in Syrien überprüfen. Inhalt: Immobiliengeschäfte in Syrien. Als alles geklärt ist, holt er einen juristischen "Hammer" raus.

Verkündet erst einen Hinweis: "Für die Kammer kommt ein Geschehensablauf in Betracht, wie B. (Iyad B., der zweite Angeklagte, Anm. der Red.) ihn geschildert hat. Der Würgevorgang wäre dann allein von O. gemacht worden. Der Angeklagte B. hat das nicht gesehen, gewollt und mitbekommen."

Verteidiger beantragen Unterbrechung

Dann folgt der Hinweis der Schwurgerichtskammer: "Für diesen Fall käme Mohammed O. wegen eines Verdeckungsmordes als Alleintäter und wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Betracht. In diesem Falle käme für B. eine gemeinschaftliche räuberische Erpressung in Betracht."

Rums. O.s Verteidiger sind elektrisiert. Beantragen sofort eine Unterbrechung wegen eines unaufschiebbaren Antrags. Besprechen sich mit dem syrischen Flüchtling. Der sitzt eine halbe Stunde später wieder im Gerichtssaal. Die Gesichtszüge sind ihm deutlich entglitten. Er leckt sich nervös die Lippen, zieht die Stirn in Falten. Lächeln ist nicht mehr drin im inzwischen wieder spitzen, rötlichen Vollbart. Offenbar begreift er jetzt, wie ernst die Lage ist. Ernst schaut er auf Iyad, der schaut aus dem Fenster.

Fällt das Mord-Urteil nur gegen Mohammed O.? Kommt Iyad mit einer "räuberischen Erpressung" davon? So kann man diese rechtlichen Hinweise deuten. Seine Verteidiger haben noch Redebedarf, ziehen sich mit O. noch mal ins Besprechungszimmer zurück.

Antrag auf Empfangenheit gegen Richter und Schöffen

Kurz nach 11 Uhr wollen sie dann noch eine Unterbrechung. Wegen eines unaufschiebbaren Antrags. Der Richter will wissen, worum der Antrag geht. Rechtsanwalt Hamburg: "Es geht um Befangenheit."

Richter Karlheinz Münzer lehnt die Unterbrechung ab – der Antrag kann noch zum Ende der Verhandlung gestellt werden – ohne Rechtsverlust.

Gegen 17 Uhr holt dann O.s Verteidiger Alexander Hamburg zum Gegenschlag aus. Stellt einen Antrag auf Befangenheit gegen jeden Richter und jeden Schöffen der Kammer.

Die Begründung: "Der tatsächliche und der rechtliche Hinweis wecken beim Angeklagten den Eindruck, die Kammer hat sich vorab schon entschieden. Die Kammer würde die Einlassungen von Iyad B. als insgesamt glaubhaft betrachten."

Hamburg führt weiter aus, dass diese Hinweise der Kammer schon vor der Anhörung des LKA-Gutachters erfolgt sind. Dieser Gutachter soll berichten, ob es am Tag des Mordes ein Telefonat zwischen Iyad an O. um 18.58 Uhr in der Länge von 43 Sekunden gegeben hat. Iyad hatte in seiner Erklärung behauptet, er sei um 18.45 Uhr in die Wohnung von Riecher gegangen, habe zweimal versucht, O. anzurufen, dass alles klappt. Er habe ihn aber nicht erreicht.

Telefongespräch über WhatsApp

Der Verteidiger argumentiert: Diese Aussage von Iyad beziehe sich auf das Kerngeschehen der Tat. Sei insofern natürlich auch ein Indiz für die Glaubwürdigkeit dieser Schilderungen.

Hamburg: "Dies lässt einzig den Schluss zu, dass sich die Kammer vor der Einführung des Sachverständigen eine abschließende Meinung über den Sachverhalt gebildet hat. Die Richter und Schöffen lassen sich von der selbst zu verantwortenden Terminknappheit bis Jahresende treiben."

Fakt ist jedenfalls: Der LKA-Gutachter hatte ab 14 Uhr bestätigt, dass es dieses Telefon zwischen Iyad und O. mit einer Dauer von 43 Sekunden über Whatsapp gegeben habe. Das sei beiden beschlagnahmten Handys zu entnehmen, aber auch einem Vergleichsversuch mit einem Samsung und einem iPhone.

Die Kernfrage lautet also: Lügt Iyad? Hat er den Mord begangen? Ist ihm das zuzutrauen?

Dazu nimmt der psychiatrische Sachverständige Charalabos Salabasidis ausführlich Stellung.

"Er realisiert vehement gewisse Vorhaben"

Iyad B. hatte zugegeben, mit O. die Überfallpläne auf Riecher geschmiedet zu haben. Ist dann allein ins Haus, hat das Opfer dazu gebracht, ihm gut 3000 Euro in bar aus der Geldkassette zu geben. Dann wollte Iyad mehr. Riecher – so das Geständnis von Iyad über seine Verteidiger – ist vorgegangen. Dann habe sich O. von hinten auf ihn gestürzt, habe ihm den Mund zugehalten. Mehr habe er nicht gesehen, weil er erschrocken war und geschockt über das, was er sah.

Ist das plausibel? Chalabasidis hat – zumindest an diesem geschilderten Schock-Zustand von Iyad – Zweifel: "So wie ich ihn in den beiden Explorationen kennengelernt habe und was die Testungen ergeben haben, wäre für mich als Sachverständigen diese Reaktion nicht zu erwarten gewesen. Er ist kein Mensch, der eine ängstliche Persönlichkeit ist. Seine Gesamtpersönlichkeit ergibt nicht den Hinweis darauf, dass er völlig erstarrt bleibt. Aus psychopathologischer Sicht ist das nicht unbedingt nachvollziehbar." Später sagt der Sachverständige: "Iyad hat einen Charakter, der beharrlich seine Ziele verfolgen kann. Er realisiert vehement gewisse Vorhaben."

In dieser Untersuchung durch Salabasidis hatte Iyad – so erwähnt es O.s Verteidiger Alexander Hamburg – folgendes gesagt: "Ich habe das Opfer bestohlen, weil ich im Casino spielen wollte. Und Drogen kaufen wollte. Dazu wollte ich meinen Bruder finden, der zu diesem Zeitpunkt verschwunden war. Und ihm mit dem Geld einen Rechtsanwalt bezahlen."

Welchen Einfluss hatten Drogen?

Fakt ist, so der Sachverständige: Iyad sei psychologisch und psychiatrisch gesehen völlig normal. Doch welchen Einfluss hatten Drogen auf das, was am 2. November im Haus von Michael Riecher passiert ist? Die drei Joints, die Iyad vor der Tat geraucht haben will (laut seiner Erklärung), haben laut Salabasidis einen Wirkstoffgehalt von schätzungsweise ungefähr einem Gramm: "Cannabis wirkt eher beruhigend. Aggressionsdelikte sind unter Cannabis-Einfluss eher weniger zu erwarten."

O.s Verteidiger Hamburg will wissen, ob man rausfinden kann, wie viel Haschisch Iyad zur Tatzeit im Blut hatte. Der Sachverständige: "Mit einer Haaranalyse ginge das vielleicht." Hamburg schaut auf Iyads Glatze mit den maximal ein Millimeter raspelkurzen Haaren: "Das ist wohl schwierig." Schmunzeln im Gericht.

O.s Verteidiger Alexander Kubick will wissen, was man aus den beiden Fluchtversuchen von Iyad schließen kann. B. hatte nicht nur versucht, am 5. August nach der Verhandlung zu fliehen. Sondern wollte auch im März aus der U-Haft in Stuttgart-Stammheim fliehen, wie Kubick jetzt an die Öffentlichkeit bringt: "Das war mit einem erheblichen körperlichen Einsatz."

Diagnose laut Sachverständiger schwer

Salabasidis: "Natürlich lässt eine vorher nie gesehene Vehemenz Rückschlüsse auf eine hohe Impulsivität zu. Wenn man solch einen Moment erwischt, dann sind auch Kurzschlussreaktionen und Impulse nicht auszuschließen."

Dann meldet sich Iyad zu Wort. Zu seinem Fluchtversuch im August auf dem Transport von Rottweil nach Stuttgart. Der staatenlose Palästinenser: "Ich bin abgehauen, um mit meiner Mutter zu reden oder auf einem Videofilm zu sehen. Das war mein Motiv."

Dann soll der Sachverständige etwas zu Mohammed O. sagen. Schwierig, weil der syrische Flüchtling im Gericht bisher schweigt. Er hatte sich auch geweigert, sich der Untersuchung durch Salabasidis zu stellen. Der Sachverständige: "Ohne mit ihm zu sprechen, ist es schwierig, eine Psychopathologie des Angeklagten zu definieren oder zu beschreiben." Eine Diagnose sei ganz schwer.

Die Berichterstatterin der Kammer fragt: "In einer Polizeivernehmung hatte O. erwähnt, dass er im Gefängnis ein Gewehr auf den Kopf bekommen habe und deshalb Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis hat."

Salabasidis: "So etwas kommt vor allem bei demenziellen Krankheitsfällen vor. Oder bei Drogen und Alkohol. Das kann man so nicht herausfiltern."

Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid hakt nach: "Wir haben eine Vielzahl von Zeuen, die sagen: O. würde ständig lügen. Oder viele Geschichten erzählen. Ein Ermittler hat ihn in den Vernehmung so beschrieben: O. sei kein einfacher Zeuge. Es waren ständige Unterbrechungen nötig gewesen. Dazu hat er sehr sprunghafte Angaben gemacht, was die Zeiten anbelangt."

Der Sachverständige: "Ohne genauere Tests oder Untersuchungen ist es nicht möglich, einen Verdacht auf das Münchhausen-Syndrom oder andere Persönlichkeitsabwandlungen von O. nachzuweisen. Sprunghaftes Denken ist aus psychiatrischer Sicht eine normale Denkstörung. Die Sprunghaftigkeit kann auch an der damaligen Situation gelegen haben."

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