Vom Turmbau zu Rottweil: Martin Hecht, ein Exil-Rottweiler, beleuchtet das Projekt von einer anderen Seite

Rottweil. Der neue Rottweiler Turm. Er scheint schon so sehr mit der Stadt verwachsen zu sein, dass kaum einer mehr darüber spricht, geschweige denn, sich darüber aufregt. Wirklich? Ist dieser Turm also tatsächlich das, wofür ihn viele halten, und hält er, was man sich von ihm versprochen hat? Der Journalist und Buchautor Martin Hecht, in Rottweil aufgewachsen, hat sich Gedanken über das Rottweiler Mega-Projekt gemacht und bemerkenswerte Rückschlüsse gezogen. Wir bringen hier seinen Text:

Ich bin einer von den vielen Exil-Rottweilern, die der Lebensweg aus ihrer Heimatstadt in die Fremde geführt hat und die jetzt irgendwo anders über die ganze Republik verstreut leben. Manche Einheimischen mögen uns nicht sehr. Sie meinen, wer aus Rottweil kommt, aber in München oder Berlin lebe, denke wohl, er sei etwas Besseres. Mit solchen Vorurteilen habe ich zu leben gelernt. Aber trotzdem ist mir, wie vielen anderen auch, nicht egal, was hier passiert. An Rottweil habe ich gute Erinnerungen und deswegen mache ich mir Sorgen um die Stadt, die mir viel bedeutet.

Ich bin einer, der hier groß geworden ist, der hier zu Schule ging, der im Stadtjugendring aktiv war. Wir haben Filme für Rottweils Cineasten ausgewählt, Zeltlager in Hyères organisiert – und wir haben alte Häuser gerettet. In den Achtziger Jahren war das. Wie viele andere Jugendliche war ich bei den "Stadt-Sanierern", jener Gruppe, die mitgeholfen hat, die vielen, damals heruntergekommenen alten Häuser in Rottweils Altstadt wieder flottzumachen. Holger Rabenstein und Alfons Bürk waren unsere Chefideologen. Sie brachten uns bei, wie man alte Balken rettet, einen ökologisch korrekten Speis anrührt und dass man jahrhundertealte Ziegel nicht wegzuschmeißen brauchte, sondern sie wiederverwenden konnte. Aber nicht nur das. Sie weckten in uns auch ein ganz neues Bewusstsein, die Liebe zum alten Gemäuer. Der Kampf galt dem Betonbrutalismus, dem Gigantismus und Größenwahn einer städtebaulichen Nachkriegsideologie, die auch hier viel zerstört hatte, was über Jahrhunderte gewachsen war – und den Charme dieser Stadt ausmachte.

Das war damals wie eine neue Religion – eine Art Fachwerk-Buddhismus. Die Slow-Food-Bewegung gewissermaßen des Städtebaus, Achtsamkeit am Altbau, sanft und nachhaltig. Viel war vom behutsamen Umgang mit alter Bausubstanz die Rede, es ging ums "Gefühl", um "Gespür" und "Einfühlungsvermögen". Das war das Vokabular von Bürk, so konnte man ihn damals bei seinen vielen Lichtbilder-Vorträgen in den Nebenzimmern der Rottweiler Wirtshäuser reden hören.

Wenn ich heute sehe, welche Rolle Bürk beim Bau des Turms spielt, bin ich verblüfft. Der Mann hat einen beachtlichen Sinneswandel durchgemacht. Eine Kehrtwende um 180 Grad. Er ist jetzt der Hardliner im Powertower-Projekt, das ja bei aller Kontroverse unumstritten eines sicher nicht ist: eine Übung in Einfühlungsvermögen oder Behutsamkeit.

Nein, dieser Turm ist sicher nichts für Romantiker. Mit dem Gefühl ist ihm nicht beizukommen. Er ist kalt, steril, und er hat sicher nicht das, was man eine Seele nennt. In ihm drückt sich ein für Rottweil ganz neues Verständnis aus: Vorbei ist die Zeit der Gefühlsduselei, vorbei auch die alte Bescheidenheit. Es scheint, jetzt wolle man beeindrucken. Sich selbst und andere. Und zwar durch den ganz großen Wurf, der nicht nur das Stadtbild verändert, sondern den Himmel über Rottweil neu erfindet.

Das Elendder Projektemacherei

Manche seiner Fans sagen, der Turm sei für Rottweil vor allem ein in die Zukunft weisendes Symbol eines neuen Denkens. Das wollen auch Lokalpolitiker immer wieder den Leuten weismachen. Genau besehen hat jedoch die Idee, einen solchen Mega-Turm haben zu wollen, viel mehr gemein mit einer überwunden geglaubten Vergangenheit, mit verschrobenen Utopien wie sie in alten James-Bond-Filmen vorkommen, aber vor allem mit dem Rigorismus von megalomanen Architekten, die sich in den Sechziger und Siebziger Jahren als "Macher für die Ewigkeit" verstanden. An dieses aus dem Ruder gelaufene Fortschrittsdenken knüpft die Idee des Turmes nahtlos an.

Ja, sie fügt sich, wenn man so will, sogar in ein noch älteres Denken ein, in die noch pubertierende Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als vernunftberauschte Projektemacher nicht weniger als Berge versetzen und Brücken zum Mond bauen wollten. Der rasante Fortschritt der Vernunft schien damals alles möglich zu machen, die verwegensten Allmachts-Phantasien schienen kurz vor ihrer technischen Realisierung zu stehen.

Nicht Broß oder Bürk hießen die damaligen Projektemacher, sondern Cagliostro, Dr. Eisenbarth oder am Hofe Friedrichs des Großen der Mathematiker und Geodät Pierre-Louis Moreau de Maupertuis. Letzterer unterhielt schon im Jahr 1758 ein atemberaubendes Projekt, das dem in Rottweil verblüffend ähnelt: Er machte dem preußischen Monarchen den vollkommen ernst gemeinten Vorschlag, ein Loch zum Mittelpunkt der Erde zu graben, um ihre innere Beschaffenheit zu ergründen.

Türme zur Stillstandsbekämpfung?

Der Unterschied zum Thyssenturm: Maupertuis fand am Ende keinen Förderer, keinen Finanzier, selbst der Preußenkönig winkte ab – auch wenn ihm Maupertuis noch viele Edelsteine in Aussicht stellte, die es in der Mitte der Erdkugel in Hülle und Fülle zu finden gäbe. Ganz anders in Rottweil 2015. Hier wird das Projekt bekanntlich "voll durchgezogen" – und keiner hält es auf. Wenn man Pro-Tower-Rottweiler fragt, warum sie den Turm gut finden, hört man viele Argumente. Das erste: der Turm ist "geil" oder "cool". "Halt mal was ganz anderes." "Der bringt Geld in die Stadtkasse." Viele wollen aber auch beweisen, dass sie bei allem Geschichtsbewusstsein für die alte Stadt auch einen Sinn für "das Moderne" haben – was immer das sein soll. Die, die sich fundierter Gedanken machen, sprechen wie der Oberbürgermeister oder Alfons Bürk gerne von irgendwelchen "Chancen", die ein solches Bauwerk mit sich brächte. Chancen? Wofür? Chancen nicht nur für ein paar Arbeitsplätze und Touristen mehr, sondern: "für Veränderung". Oder wie es Bürk in einer Versammlung formulierte, in der er von Rottweil als einer über Jahrhunderte von Mauern umschlossenen Stadt referierte und zum Schluss kam: "Veränderungen blieben außen vor. Dieses Stadium ist heute durchbrochen mit einem ganz großen Turm." Ist das so? Durchbricht ein ganz großer Turm einen angeblichen Stillstand, unter dem diese Stadt so lange gelitten hat?

Wie ist das mit den ganz großen Türmen dieser Welt – durchbrechen sie Stillstände? Hat der Bau des über 800 Meter hohe Shanghai-Towers oder der noch höhere Burj Khalifa in Dubai den dortigen kulturellen Stillstand durchbrochen – oder hat er ihn eher zementiert in alle Ewigkeit? Solche Bauwerke stehen ja in aller Regel auf Staatsgebieten relativ durchgeknallter Diktaturen – und wenn nicht dort, dann im Bankenviertel. Geht es da wirklich um kulturelle Dynamik, um frische Luft in den Köpfen? Nein, diese Gebäuderiesen haben durchweg denselben Sinn und Zweck: sie sind architektonische Kraftakte, zeigen Muskeln, drücken die Größe ihrer mächtigen Bauherrn aus mit dem eindeutigen Ziel, den Rest der Welt kräftig einzuschüchtern. Und genauso kommt auch der Rottweiler Monsterturm rüber – er ist, wie so viele andere auch, ein urbanes Statussymbol, eine Machtdemonstration. Dass mit ihm mehr "Weltoffenheit" über die Stadt käme, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist zu bezweifeln. Oder glaubt jemand im Ernst, dass dieser Turm bessere Menschen aus den Rottweilern macht?

Vielleicht geht es ja gar nicht nur um Arbeitsplätze, Touristen oder um irgendeine "Philosophie". Vielleicht geht es ja um Psychologie. Um die Psychologie einer Kleinstadt. Rottweil ist eine kleine Stadt. Okay, man hat den berühmten Rottweiler Hund, man kommt einmal im Jahr am Fasnetsmontag in der Tagesschau und darf sich auf dem braunen Autobahnschild immerhin die "älteste Stadt Baden-Württembergs" nennen. Aber im Grunde plagt viele Bürger Rottweils – wie viele andere Kleinstädter der Republik ganz genauso – jenes ab und an aufsteigende Gefühl der Bedeutungslosigkeit: man leidet, mal mehr und mal weniger, unter dem Tatbestand, dass die Post eben woanders abgeht.

KleineTurm-Psychologie

All das bräuchte einen richtigen Rottweiler eigentlich gar nicht zu jucken, hätte man ein stabiles Selbstbewusstsein. Aber genau daran, so scheint es, fehlt es. Man hat hier, wie überall in der Provinz ganz genauso, immer wieder mal einen strukturell bedingen Minderwertigkeitskomplex. Man würde gerne, wie es auf schwäbisch heißt, auch "mit den großen Hunden brunzen, kann aber den Fuß nicht lupfen". Man hasst die arrogante Großstadt, und sehnt sich paradoxerweise zugleich nach mehr Zentralität. Die ewig empfundene Randlage stimuliert ein manifestes Aufmerksamkeitsdefizit. Und das tut weh. Was ist die Lösung? Ein "Projekt" muss her, wie es in Goethes Faust heißt, ein "Projekt", mittels dessen man das Städtle endlich groß rausbringt und seine Bürger ein für alle Mal vom Fluch des Hinterwäldlertums erlöst. Der Turm soll’s richten, er soll uns endlich an die große Welt anschließen, er führe uns in die Schmerzfreiheit. Die Gründungsidee dieses Turms ist im Grunde ein Versprechen. Das Versprechen, endlich mehr zu sein als "nur" dieses alte, verschlafene, etwas schrullige, aber grundsympathische und originelle Rottweil. Endlich größer, bedeutender, beachtlicher zu sein. Das ist die Idee – und tatsächlich, nichts eignet sich besser zur Einlösung dieses Versprechens als genau dieser Turm! Warum? Ganz einfach, der Turm hat die eine Qualität, die man für solche Zwecke braucht, auch wenn es leider seine einzige ist: er fällt auf. Ein ganz großer Turm, unübersehbar, größer als der Stuttgarter Fernsehturm! "Jetzt simmer endlich au äbbr!" Vielleicht sollte man diesen Satz auf die Gedenktafel meißeln, die am Eröffnungstag am Turmeingang feierlich enthüllt wird.

Das Turmprojekt ist am Ende kein Manifest der Weltoffenheit, sondern der Versuch eines Befreiungsschlags. Er kündet mehr von der großen Not, aus der man kommt, als vom gelobten Land, in dem man leben möchte. Und deswegen geht die Rechnung wohl auch nicht auf. Am Ende gibt es nicht die ersehnte Hochachtung und Wertschätzung, ein gestärktes Stadt-Ego, sondern wie immer bei Schildbürger-Streichen: den Spott der anderen. Es ist halt leider was dran an dem Satz, der da lautet: Nichts ist provinzieller, als die Provinz, wenn sie sich großstädtisch gebärdet.

Aber was wäre eigentlich, wenn die Rottweiler einmal genug hätten von ihrem neuen Turm? Er hat ja kein Ventil. Und man kann nicht einfach die Luft rauslassen, ihn zusammenrollen und im Nägelesgraben endlagern, wenn man ihn nicht mehr mag. Ich glaube, an dieses Problem haben die wenigsten seiner Befürworter gedacht. Nein, er wird bleiben. Es gibt schon heute keinen Platz mehr im öffentlichen Raum dieser Stadt, wo man nicht von diesem Ding am Horizont behelligt würde. Man entkommt ihm nicht. Das ist das Problem. Es ist jetzt da. Immer und überall. Und wird es bleiben.