Ein Jeep mit Besatzungssoldaten in Rottweil. Diese Aufnahme ist in der zweiten Jahreshälfte 1945 entstanden. Foto: Stadtarchiv Rottweil Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Leser erinnern sich an 1945 / Von Hühnern und Schokolade / Eine Nachkriegsgeschichte aus Neufra

Leser erinnern sich an das Jahr 1945. Rudolf Maier berichtet von Hühnern und Schokolade. Eine Nachkriegsgeschichte aus Neufra.

Rottweil. Es war in jenem trocken heißen Sommer 1945. Die französische Armee, angereichert mit Hilfstruppen aus den Kolonien, hatte uns wenige Wochen zuvor – am 21. April – kampflos erobert, besser gesagt, vom Naziterror befreit.

Wir Kinder – ich war damals elf Jahre alt – hatten viel freie Zeit, denn es gab noch keinen Schulunterricht und es gab – zum Glück – auch noch keine organisierte oder durch allerlei Hobbys verplante Freizeit.

Das schreckliche Wort "Freizeitgestaltung" (eigentlich ein Widerspruch in sich) als öffentliche familienpolitische Aufgabe habe ich erst Jahrzehnte später Berufs halber kennengelernt.

Pulver angezündet

Wir Jungen beschäftigten uns mit Hingabe und Abenteuerlust mit den Hinterlassenschaften der deutschen Wehrmacht und alliierten Luftangriffe, mit zusammengeschossenen Wehrmachtsautos und Motorrädern, hantierten mit noch völlig intakten Karabinern, zündeten das Pulver herumliegender Flakmunition, das wir in schönen Linien ausstreuten, an und brachten höchst riskant die am Dorfrand in einer feuchten Wiese zu Hunderten abgeworfenen Stabbrandbomben zur Entzündung. Minenräumen als Freizeitvergnügen. Ihre Bearbeitung hatten wir zum Teil im Luftschutzunterricht kennengelernt.

Auf Feld und Flur sammelten wir die Hülsen der Geschosse von Bordwaffen der Tiefflieger, die der tüftelnde Elektromeister Haller im Ort zur Herstellung begehrter Elektrofeuerzeuge verwendete. Streichhölzer und Feuersteine waren Mangelware.

Mit selbstgefertigten, im Wasser explodierenden Karbidflaschen gingen wir in Prim und Starzel ungehindert auf Fischfang.

Eine größere Heerschar von Schutzengeln hat uns bei all diesem Treiben vor Unheil bewahrt. Und der Feldschütze war angesichts der allgemeinen Notlage recht nachsichtig. Die Freiheit, damals fast noch ein Fremdwort, schien uns Jungen trotz der Bedrängnis durch die allgegenwärtige materielle Not und das Besatzungsregime fast grenzenlos.

Im Dorf hatte sich zu der Zeit eine kleine Besatzungstruppe einquartiert. Die Zeit der kostenlosen Selbstbedienung in den Hühnerhöfen und Viehställen hatten die Landwirte je nach persönlichem Glück oder Pech mit größeren oder kleineren Verlusten überstanden.

Ansätze von Recht und Ordnung und einer zivilen Verwaltung machten sich, zaghaft noch, bemerkbar. Mangels werthaltigen Papiergeldes war allgemein Tauschhandel angesagt.

Schüchterner Soldat

In unserer damals noch ländlich geprägten Nachbarschaft saßen eines sonnigen Sonntagnachmittags einige Frauen auf der Bank vor dem Haus, als ein hochgewachsener, schlanker, rabenschwarzer französischer Soldat, im Dorfjargon Senegalneger genannt, in tadelloser Ausgehuniform fast schüchtern und freundlich lächelnd an sie herantrat und mit einem Geldschein in der Hand nach "poulet", "kikeriki" und "gogogook" fragte. Köstlichkeiten, die bei den Soldaten wohl nicht oft auf dem Speisezettel standen.

Nachbars Rosa, die sofort begriffen hatte, fasste sich ein Herz und sagte schlagfertig: "Miar nix Kikeriki, Franzosa scho gholad". (Für Nichtschwaben: "Wir haben kein Geflügel mehr, die Franzosen haben es schon geholt.)

Natürlich konnte Rosa nicht wissen, dass der nette Afrikaner die schwäbische Landessprache noch nicht völlig beherrschte und das Wort "scho gholad" mit der damals heiß begehrten Süßigkeit verwechselte, weshalb er bedauernd erklärte: "Ich nix Schokolad, Franzos Schokolad."

Mit den beiderseits verfügbaren Verständigungsmitteln war das sprachliche Missverständnis leider (?) nicht aufzuklären. Man verabschiedete sich unter beiderseitigem Bedauern, und so scheiterte eine der frühesten Gelegenheiten zur Völkerverständigung auf Ortsebene.

Ob damals nicht doch ein Huhn oder Hahn ein verborgenes Dasein in Nachbars Garten geführt hat und auf diese Weise von einem vorzeitigen Ende bewahrt wurde, ist dem Verfasser nicht bekannt.