Die Freundinnen lachen, aber der Hintergrund ist ernst: Lena (links) hat Bulimie, Shirin hat Magersucht. Foto: Mulcahy Foto: Schwarzwälder Bote

Gesundheit: Präventionsprojekt "Püppchen" im Landratsamt vorgestellt / Brisante Zahlen im Kreis Rottweil

"Püppchen" – so lautet der Name eines Präventionsprojekts gegen Essstörungen. Im Mittelpunkt steht dabei das gleichnamige Theaterstück von Sarah Gros und Monika Wieder. Sie haben das spannende Drama im Landratsamt vor Schulsozialarbeitern aufgeführt.

Rottweil. Lena (gespielt von Monika Wieder) und Shirin (gespielt von Sarah Gros) sind Freundinnen mitten in der Pubertät. Eine komplizierte Zeit. Lena kämpft vergebens um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und rackert sich daheim ab, um beachtet zu werden. Doch niemand nimmt sich Zeit für sie. Aus Frust und Kummer fängt sie mit dem Essen an. Mit sehr viel essen. Ganze Süßigkeitenpackungen verschlingt sie und kotzt sie danach wieder aus. Sie hat eine manifeste Essstörung: Bulimie.

Ihre Freundin Shirin ist das Gegenteil. Sie hat scheinbar alles: sieht gut aus, ist sportlich, hat fürsorgliche Eltern, aber auch ein Essproblem. Sie isst nicht zu viel, sondern zu wenig. Verschenkt ihr Pausenbrot, ernährt sich von fünf Teelöffeln Müsli und Apfel mit Tee. Sie möchte immer mehr abnehmen, am Besten gar keinen Bauch mehr haben. Shirin kombiniert das mit sehr viel Sport und gönnt sich keine Ruhe mehr. Sie möchte ein perfektes "Püppchen" sein. Dabei schlittert sie in die Magersucht.

Während Lena sich selbst hasst wegen ihrer Essattacken und etwas dagegen unternimmt, hat Shirin keine Einsicht in ihr Problem. Sie ist überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben. "Ich kann damit aufhören", behauptet sie.

Die Essstörung fällt bei Beiden auf. Dass Lena so oft kotzt, kann sie irgendwann nicht mehr mit einer Magengrippe erklären. Und das Shirin von 62 Kilogramm auf 49 abgemagert ist, fällt nicht nur ihrem Bekannten Torsten auf dem Sportplatz auf.

Shirins Ende ist tragisch. Während ihre Freundin Lena durch eine Therapie mit anschließendem betreuten Wohnen überlebt, endet die Magersucht von Shirin tödlich.

Und so ein Ende gibt es nicht nur in einem Theaterstück. Unbehandelte Essstörungen enden oft tödlich, weiß Ingo Marot, Leiter der Gesundheitsförderung der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg, der das Projekt nach Rottweil geholt hat. Das Ziel ist, Fälle wie Shirin zu verhindern. Dass das nötig ist, zeigt ein Blick auf die Statistik. Die Zahl der bei der AOK in Rottweil betroffenen Versicherten stieg zwischen 2008 und 2016 von 110 auf 203. Das ist ein Anstieg um 85 Prozent (siehe Grafik). Den stärksten Anstieg gibt es bei jugendlichen Mädchen. Außerdem sei die Dunkelziffer sehr hoch, betont Marot.

Das Projekt "Püppchen" ist mehr als ein Theaterstück. Auch eine Nachbereitung in den Klassen fünf bis sieben gehört dazu. Die Schüler können den Schauspielern sämtliche Fragen zu dem Thema stellen. Die Theaterpädagoginnen Sarah Gros und Monika Wieder betonen, dass sie mit den Schülern eine Schweigepflicht vereinbaren. Alles Gesagte der Schüler bleibe im Klassenzimmer, versichert Monika Wieder.

Sie sagt dann den Schülern auch, dass in der Figur Lena viel von ihr selbst stecke. Sie habe selbst an einer Essstörung gelitten. Ihr geht es darum, Betroffene und deren Umfeld dazu zu bewegen, sich Hilfe zu holen. Ohne diesen Schritt kann die Krankheit tödlich enden. Doch der Weg ist hart. Oft sei betreutes Wohnen notwendig, und manchmal begleite einen die Krankheit ein Leben lang, sagt die Schauspielerin.

Diese Erfahrung machen auch Angehörige. Ein Ehepaar, das im Landratsamt dabei war, gründete deshalb eine Selbsthilfegruppe für Angehörige. Die Bildung solcher Gruppen gehört auch zum Ziel des Projekts. Außerdem soll das Beratungsnetzwerk "Essstörungen" im Landkreis etabliert werden. Im Schwarzwald-Baar-Kreis sei "Püppchen" ein Erfolg gewesen, berichtet Ingo Marot. "Das Projekt hat Spuren hinterlassen", sagt er. Er hofft, dass das Projekt auch im Kreis Rottweil gut ankommt.

Die Interessenten hatten im Landratsamt nach der Aufführung die Möglichkeit, die Theaterpädagogen mit Fragen zu löchern und direkt zu buchen. Die AOK fördert die ersten 30 Schulveranstaltungen mit bis zu 970 Euro pro Schule.

Menschen, die von Essstörungen betroffen sind, haben laut AOK ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und zum Essen. Wie im Theaterstück gibt es zwei Extreme: Entweder meiden Betroffene das Essen und wollen möglichst dünn werden. Oder sie schaufeln das Essen in sich hinein, um sich danach zu übergeben.

Im ersten Fall spricht man von Magersucht (Anorexie). Magersüchtige haben oft einen überhöhten Leistungsanspruch an sich. Der Gewichtsverlust wird zum Inhalt von Denken und Handeln. Der zweite Fall wird als Bulimie bezeichnet. Die Betroffenen haben Essattacken und übergeben sich danach. Eine Sonderform bilden Binge-Eater. Diese haben auch Essattacken, übergeben sich aber danach nicht.