Brauchtum: Regisseurin erzählt über das Entstehen des Films "Narren" / Begegnungen bleiben in Erinnerung
Rottweil. Die Stuttgarter Filmemacherinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier haben die Rottweiler Fasnet drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Hunderte Stunden Filmmaterial sind entstanden – nicht nur vom Narrentreiben in der Stadt, sie haben auch Einblick in das Geschehen davor und danach, bei den Familien und in den Häusern bekommen. Es ist ein Film, der ganz auf die Ereignisse setzt – ohne dabei noch etwas mit Worten erklären zu müssen.
Bei den Hofer Filmtagen im Oktober war das Ergebnis bereits zu sehen. Der Film "Narren" wurde dort so beschrieben: "Der Narrenmeister Christoph steht vor einem großen Problem: Viel zu viele und vor allem zu viele falsche Narren aus dem Umland wollen am berühmten Rottweiler Fasnachtsumzug, dem Narrensprung, teilnehmen. Trotz strenger Regeln, wie die Kenntnis des Schwäbischen oder eine Art TÜV für die kostbaren und teuren Kostüme und handgeschnitzten Masken, kommen tausende Narren in die Stadt, und es werden jedes Jahr mehr. Konservative und liberale Narren debattieren, wie offen oder wie exklusiv die Rottweiler Fasnacht sein soll. Und auf keinen Fall dürfen Frauen sich als Pferdchen verkleiden."
Im Herbst 2020 soll der Film nun auch in die Kinos kommen. Wir haben mit Wiltrud Baier über ihr Werk und ihre Zeit in Rottweil gesprochen.
In Ihren Filmen geht es um Macht, Geld, Ruhm und Glauben. Wie passt da die Rottweiler Fasnet in die Werkreihe?
Wiltrud Baier: Als kleines Kind habe ich Faschingsumzüge das erste Mal im Fernsehen gesehen. Stundenlang zogen da verkleidete Personen lustig durch die Straßen, warfen mit Konfetti und Bonbons, überall war schmissige Musik und prächtige Laune. Das wollte ich auch erleben und ging raus auf die Straße. Ich dachte, der Faschingsumzug aus dem TV käme bestimmt auch gleich an unserem Haus vorbei. Ich wartete stundenlang in der Kälte. Draußen war alles traurig und leer. Es kam kein Faschingsumzug. Ich habe mit dem Film also ein Kindheits-Trauma aufgearbeitet. Wir Menschen sind soziale Wesen, "Dabei sein" ist auch ein ganz großes Menschheits-Thema.
Die Filmtage in Hof, an denen der Dokumentarfilm Weltpremiere feierte, sind vorbei. Wie war die Resonanz?
Es ist ja ein Film ohne die üblichen erklärenden Kommentare einer TV-Reportage, alles gefilmte Material spricht für sich selbst. Das war eine wirkliche Herausforderung, ob es gelingen kann, dass auch das Fachpublikum in Hof, das meist wenig mit Fasnet zu tun hat, alles verstehen kann. Der Film sei ein Glücksfall für den Dokumentarfilm, sagte der Filmdramaturg Roland Zag. Das hört man natürlich gern.
Jemand, der mit der Rottweiler Fasnet keine Berührungspunkte hat, der tut sich schwer, sich auf diese besondere Welt einzulassen. Wie haben Sie sich dem Thema genähert?
Nüchtern betrachtet setzten sich Leute einmal im Jahr Holzlarven auf, springen herum und machen Hu-Hu-Hu. Aber wie ernst und wichtig die Fasnet tatsächlich ist, merkt man auch als Außenstehende ziemlich schnell. Und wenn Leute mit Ernst und großem Engagement sich etwas hingeben, dann kann man – oder zumindest wir – eigentlich nicht anders, als das mit dem gleichen Ernst und Engagement zu betrachten.
Filmteams sind in Rottweil ja nichts Besonderes. Wie sind Sie aufgenommen worden?
Es hatte sich irgendwann herumgesprochen, dass wir nicht nur ein paar Nachmittage in Rottweil reinschneien, sondern uns länger, jahrelang, mit der Fasnet beschäftigen, und dazu müssen wir ja irgendwie verrückt im närrischen Sinn sein. Und auch dank unseres Mikrofons, das aussieht wie ein flauschiger Puschel, sind wir überall sehr freundlich aufgenommen worden.
Sie sind tief in die Rottweiler Fasnet eingetaucht. Böse Zungen behaupten, sie seien nicht davor zurückgeschreckt, einen Narren bis aufs Klo zu begleiten. Auf der anderen Seite sind manche da auch nicht zimperlich. Wo lagen Ihre Grenzen?
Die Rottweiler Fasnet ist sehr berühmt. Filmteams sorgen dafür, dass sie berühmt bleibt. Aber damit geht leider immer auch etwas vom Schönen und Familiären verloren. Andererseits, Fasnet ganz für sich und ohne Aufmerksamkeit oder ohne Publikum zu feiern, das wäre auch traurig. Medien und Fasnet ist also ein schwieriges Thema. Tatsächlich kommt man als Filmteam aber nur irgendwo hin, wenn man eingeladen wird. Man ist ganz auf Gastfreundschaft und Vertrauen angewiesen, und so versucht man sich natürlich auch zu verhalten.Wer trotzdem einen Narren auf dem Klo in unserem Film entdeckt, erhält vom Filmteam eine Narrenwurst.
Sie schreiben, man müsse mehrere Fasneten erleben, um zu verstehen worum es geht. Ist Ihnen das gelungen – das Verstehen?
Es geht ja um ein Gefühl, das eigentlich nur Rottweiler fühlen können. Gefühle versteht man nicht mit dem Kopf. Wenn man erzählt "Beim Narrensprung bekommt man Gänsehaut, und die Tränen laufen einem übers Gesicht", da fragen sich neutrale Zuschauer zu Recht: "Wieso Gänsehaut, wieso weinen?" Wie kann man beim Schauen des Films dieses Gefühl mitfühlen? Wir haben eine besondere Arbeitsweise, wir nehmen uns viel Zeit und lassen die Dinge geschehen. Wir lassen zum Beispiel die Leute nicht irgendetwas noch mal tun. Das kommt ja bei den klassischen TV-Beiträgen immer wieder vor: "Oh, machen Sie das noch mal, die Kamera war noch nicht an" oder "Oh, sagen Sie das noch mal!" Das kennt man in Rottweil wahrscheinlich gut. Das machen wir nicht. Wir vertrauen da ganz den Ereignissen und unserem Gespür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und dass dann möglichst auch die Kamera genau das richtige Bild gefunden hat und auch die Belichtung und die Schärfe stimmen.Wenn das gelingt, sind es zauberhafte Momente. Zum Beispiel das Motiv der Rössle bei eisiger Kälte, die gerade in eine Narrenstube gehen. Diesen Zauber spürt man – sogar wenn man kein Rottweiler ist.
Hat man Ihnen eigentlich erklärt, warum die Frauen nicht ins Pferdchen dürfen? Also, das wissen selbst viele Rottweiler nicht.
Gute Frage. Im Zweifel: Tradition! Aber: Ist nicht der Sinn und Zweck der Fasnet das Vermummen? Dass eben niemand weiß, wer hinter einer Larve steckt …?
Welche Erlebnisse sind Ihnen beiden während Ihrer Zeit in Rottweil besonders in Erinnerung geblieben?
Wir haben den Narrentag in Rottweil bei minus 15 Grad überlebt. Ein Schuttig hat Frau Baier wie einen Sack übermütig über die Schulter geworfen – er dachte, die Frau sieht leicht aus – und aber nicht berücksichtigt, dass sie einen Rücksack mit 50 Kilogramm Equipment auf dem Rücken trug. Fast wäre der Schuttig mitsamt Frau Baier und Equipment umgefallen. Und während unserer Dreharbeiten bekam der Thyssenkrupp-Turm sein "Kleidle", das war auch spektakulär. Aber eigentlich sind es die vielen "kleinen" Begegnungen und die große Gastfreundschaft in Rottweil, an die wir uns gern erinnern.
Gibt es an der kommenden Fasnet in Rottweil ein Wiedersehen, oder machen Sie erst einmal einen großen Bogen um das Närrische?
Unbedingt, wir wollen doch ins Rössle! Haha, Scherz, natürlich ins Gasthaus Rössle.
Welchem Thema widmen Sie sich als nächstes?
Sigrun Köhler hatte gerade eine sehr schöne Ausstellung mit Zeichnungen, und ich muss unbedingt ein Drehbuch fertig schreiben, zu dem ich seit zehn Jahren einfach nicht komme, weil immer das nächste Thema für einen Dokumentarfilm um die Ecke kommt. Vielleicht gelingt mir das jetzt bis zum Kinostart der "Narren" im Herbst 2020. Die Fragen stellte Alexandra Alt
Seit dem Abschluss ihres Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg 2000 arbeiten Sigrun Köhler und Wiltrud Baier als Künstlergruppe und Produktionsgesellschaft "Böller und Brot" zusammen. Ihre Kinodokumentarfilme, Videoarbeiten und Daumenkinos wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien geehrt, unter anderem dem Grimme-Preis 2012 für den Dokumentarfilm "Alarm am Hauptbahnhof – Auf den Straßen von Stuttgart 21."
Bekannt geworden sind sie mit ihrem Debütfilm SCHOTTER WIE HEU, der im Kino zum Kultfilm avancierte. 2004 realisierten sie das erste Internationale Daumenkinofestival an der Akademie Schloss Solitude. Sigrun Köhler und Wiltrud Baier haben an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg studiert, nachdem Köhler in Schwäbisch Hall eine Ausbildung zur Druckvorlagenherstellerin und Baier in München eine Lehre zur Konditorin absolvierte.