Wohin geht die Reise für die Flüchtlinge? Foto: Vennenbernd

Informativer Abend der Freien Wählervereinigung. Landrat Michel und OB Broß stehen Rede und Antwort.

Rottweil - Unterschiedlicher könnte ein Montagabend nicht ausfallen: Während in Dresden bei Massenkundgebungen die Flüchtlingskrise und die Asyldebatte zuweilen populistisch ausgeweidet wird, die Emotionen hochkochen und es zu Scharmützeln zwischen Pegida-Anhängern und Gegendemonstranten kommt, wird zur gleichen Zeit, an einem Ort, der mehrere hundert Kilometer entfernt liegt, mehr als zwei Stunden über die Flüchtlingskrise und die Auswirkungen auf Städte und Gemeinden sachlich, offen und fair diskutiert.

Asyldebatte: ein Thema, zwei Sichtweisen

Der Ort ist das Foyer der Stadthalle in Rottweil, wo sich an diesem Montagabend etwa 50 Menschen einfinden, um über Vieles zu sprechen, was die Bürger hierzulande in diesen Tagen so sehr bewegt. Dass dieser Abend so informativ und, man muss das ja schon beinahe sagen, ohne Eklat, Anfeindungen oder sonstige emotionale Ausbrüche vonstatten geht, ist allen Beteiligten zu verdanken: der Freien Wählervereinigung (FWV), die diesen Abend veranstaltet, Landrat Wolf-Rüdiger Michel und Oberbürgermeister Ralf Broß, die ausführlich Rede und Antwort stehen, und freilich dem Publikum, dem Vieles unter den Nägeln brennt und das trotz manch innerer Aufwallung, die deutlich spürbar ist, die Dinge besonnen zur Sprache bringt.

Es gibt eine weitere Erkenntnis, nämlich die, dass man auf dieses heikle wie komplizierte Thema von zwei Seiten blicken kann, wenn nicht sogar blicken muss. Wer von der einen Seite darauf schaut, hat die Sorgen und Ängste der Bürger im Ohr und stellt diese Fragen: Was geschieht mit uns? Was passiert mit den Sporthallen? Wie viele Flüchtlinge kommen noch? Können wir so viele überhaupt versorgen? Was kostet das? Wie steht es mit der Sicherheit? Wie mit der Kriminalität?

Die andere Seite fokussiert auf diejenigen, die nach einer Odyssee hier ankommen und Schutz sowie Hilfe suchen. Für diese Sichtweise ist an diesem Abend die Journalistin und Fotografin Karin Schmidtke zuständig. Erst vor einigen Tagen ist sie von einer Reise zu einem Flüchtlingscamp an der kroatisch-serbischen Grenze zurückgekehrt. Sie hat Hilfsgüter ins Camp gebracht. Sie berichtet von Kindern, die stundenlang im Regen und in der Kälte stehen und auf den Weitertransport warten (eingepfercht in Bussen), von von Krieg und Gewalt traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Frauen. Am liebsten hätte sie jedes einzelne Kind in den Arm genommen, um ein Stück Geborgenheit zu geben, sagt sie. Sie fragt vor allem: Wer kümmert sich um diese Kinder? und fordert eine professionelle psychologische Betreuung.

Das sind die beiden Seite ein- und derselben Medaille, die die Flüchtlingsproblematik zeigt. Die Herausforderung für alle wird sein, beide Seiten in Einklang zu bringen.

So viel zur Einbettung dieses Abends. Landrat Michel und Oberbürgermeister Broß sind gekommen, um auf die von FWV-Stadtrat Dieter Albrecht gesammelten Fragen zur Flüchtlingssituation in Kreis und Stadt Antworten zu geben.

265 Hilfesuchendepro Monat erwartet

Mehreres wird einem an diesem Abend klar: Broß und Michel arbeiten an einer Strategie, um die bisherigen und die weiteren in Kreis und Stadt angekommenen Hilfsbedürftigen zu versorgen: mit einem festen Dach über dem Kopf, mit Sprachunterricht, mit weiteren Hilfsangeboten. Es wird ebenso klar: Nicht alle Fragen können erschöpfend beantwortet werden. Es bleiben auch Differenzen, etwa beim Sprachunterricht.

Einige fordern die Kommunalpolitiker auf, die Flüchtlinge und Asylsuchenden schneller und umfassender mit Deutschkursen zu versorgen. Alle sind sich darin einig, dass die Sprache der Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration ist. Es fehle jedoch an professionellen Lehrern, so Michel und Broß. Aus dem Publikum kommt der Hinweis, fürs Erste genügten doch auch ehrenamtliche Kräfte, Hauptsache, die Flüchtlinge könnten ein bisschen Deutsch sprechen. Doch Broß und Michel überzeugt das nicht. Sie setzen auf ausgebildete Lehrkräfte.

Die wichtigsten Informationen im Überblick:

Die derzeitige Situation: Im Landkreis befinden sich mehr als 1100 Flüchtlinge. Seit Oktober muss mit weiteren 265 Hilfesuchenden pro Monat gerechnet werden, im Frühjahr waren es noch 40 pro Monat. Ende 2016 wären es dann 5000 insgesamt.

Unterkünfte: Der Landrat appelliert dringend an die Kommunen, aber auch an die Bürger, weitere Unterkünfte zur Verfügung zu stellen.

Kreissporthallen in Rottweil und Schramberg: Sie werden für die Unterbringung vorbereitet und bieten Platz für 300 bis 350 Menschen. Bislang ist nicht vorgesehen, auf sie zurückzugreifen. Wenn es gut geht, kommt man bis Jahresende ohne sie aus, vielleicht sogar etwas länger. u Andere Hallen in anderen Gemeinden: Der Kreis muss erst auf die eigenen Gebäude (also Hallen) zurückgreifen. Auf Hallen in Städten und Gemeinen hat der Kreis kein Zugriffsrecht, hier ist er auf das freiwillige Angebot aus den Kommunen angewiesen

Der Solidargedanke: Rottweil muss entsprechend der Einwohnergröße 18 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen und hat dieses Soll mehr als erfüllt. Andere Gemeinden im Kreis hinken hinterher. Der Landrat verspricht, mit diesen hartnäckig zu verhandeln, so dass auch diese ihren Aufnahmepflichten nachkommen.

Solidarität bei Hallen: Wäre es nicht besser, Hallen in kleineren Nachbargemeinden zu belegen, damit in Rottweil der Schulsport aufrecht erhalten werden könnte? Auch hier gilt: Es kommt auf die Freiwilligkeit an.

Weitere Unterbringung: Um die anerkannten Flüchtlinge dann geregelt unterzubringen, müssten in Deutschland 400.000 Wohnungen gebaut werden, in Baden-Württemberg bis zu 60 000. u  Beschlagnahme/Mieter gekündigt? Privaten Wohnraum zu beschlagnahmen, ist nicht einfach, Eigentum ein hohes Gut, so der Landrat. Michel und Broß sagen: Es habe keine Mietkündigungen gegeben, um Wohnungen für Asylsuchende frei zu bekommen. Michel betont: "Wir dürfen nicht Einheimische und neu Angekommene gegeneinander ausspielen", das gefährde den sozialen Frieden.

Strategie: OB Ralf Broß sagt, die Stadt habe eine Strategie, wisse, welche städtischen Immobilien für eine weitere Belegung in Frage kämen, wo privater Leerstand herrsche, wisse, welche Freiflächen für eine Containerlösung geeignet seien, stehe zudem in Verhandlungen, um Gebäude zu erwerben.

Kosten: Der Landkreis erhält bislang vom Land eine Pauschale von 13.260 Euro pro Flüchtling für die Aufenthaltsdauer von 18 Monaten. Das sei bislang gerade so auskömmlich. Möglicherweise sagt das Land noch in dieser Woche zu, kostendeckende Beträge zu bezahlen. Die Stadt hat laut OB Broß im Ausländeramt eine weitere halbe Stelle geschaffen. Diese koste 35.000 Euro im Jahr.

Flüchtlinge und Arbeit: Ersten Erkenntnissen zufolge könnten fünf Prozent der Asylbewerber sofort in den Arbeitsmarkt integriert werden, bei weiteren 50 Prozent sei dies mittelfristig möglich. Ein Drittel werde auf längere Sicht von Transferleistungen abhängig sein, so der Landrat.

Kriminalität: Laut Polizei sei keine erhöhte Kriminalität im Zusammenhang mit Flüchtlingen festzustellen, so Michel. Das gelte wohl nicht für Erstaufnahmestellen wie in Meßstetten oder im Nachbarkreis. FW-Stadtrat Martin Hielscher fordert bei Massenbelegungen wie bei einer Turnhalle, einen Sicherheitsdienst zu stellen, der die Schwächeren unter den Flüchtlingen schützt.

 Aufnahmestopp: Von einer Forderung nach einem Aufnahmestopp halten Michel und Broß nichts. Das sei populistisch und habe lediglich symbolischen Charakter. Michel sagt, es gebe keine einfachen Antworten auf komplizierte Fragen. Broß betont, es sei unsere Pflicht zu helfen. Er appelliert auch an die Solidargemeinschaft im Kreis und daran, dass jeder seiner Verpflichtung nachkomme. u Psychologische Betreuung: Laut Broß sei auch daran bereits gedacht, und man stehe in Gesprächen mit den Fachbereichen des Vinzenz-von-Paul-Hospitals in Rottweil.

Info: Das Bündnis

Das Rottweiler Bündnis für Flüchtlingshilfe und Integration ist seit Freitag auf einer eigenen Webseite im Internet präsent. Die Homepage bündelt unter der Rubrik »Aktuelles« Informationen der Presse, aus den sozialen Netzwerken und der Bündnispartner zum Thema. Sie beinhalte weiterhin einen Abschnitt "Wir über uns", wo sich das Bündnis mit seinen sechs Arbeitskreise vorstellt und die Bündnispartner aufgelistet sind. In einer weiteren Rubrik sind allgemeine Informationen zum Thema Asyl, aber auch Leitfäden für ehrenamtlich Engagierte im Bereich der Flüchtlingshilfe und der Integrationsarbeit zu finden.

Darüber hinaus ist die Seite eine Anlaufstelle für alle, die auf verschiedenste Art und Weise helfen wollen: Die Stadt Rottweil hat Spendenkonten bei der Volksbank und bei der Kreissparkasse eingerichtet. Wer mit Sachspenden helfen möchte, findet Adressen von Einrichtungen im Rottweiler Stadtgebiet, die Gegenstände entgegennehmen und an die Bedürftigen weiterleiten.

Wer eine Wohnunterkunft für Asylsuchende zur Verfügung stellen möchte, kann sich direkt an den Landkreis Rottweil wenden und über eine Eingabemaske bequem die Eckdaten per Internet durchgeben. Für alle, die sich für eine ehrenamtliche Mitarbeit interessieren, ist ein Kontaktformular zur städtischen Mitmach-Initiative-Rottweil (MIR) gedacht. Die neue Webseite des Rottweiler Bündnisses ist unter www.integration-rottweil.de ab sofort online.