Mit diesem Auto wurde im März ein Polizist in Stuttgart überfahren. Am Steuer saß ein Haigerlocher, der offenbar gemeinsam mit anderen jungen Männern von Ergenzingen aus Drogengeschäfte betrieb. Foto: Archiv-Foto: Rosar

Ergenzinger Drogenfall wird neu aufgerollt. Polizisten in Stuttgart überfahren und schwer verletzt.

Tübingen/Rottenburg-Ergenzingen - Die Anklage lautet immer noch auf versuchten Mord. Doch die Vorwürfe gegen den 23-jährigen Angeklagten aus einer ehemaligen Ergenzinger Drogen-WG werden immer schwächer. Das verrät sein Verteidiger Thilo Bohr unserer Zeitung am Rande der Verhandlung exklusiv, als der Prozess am Tübinger Landgericht gestern neu aufgerollt wird.

Drei der fünf Richter sind neu im zum zweiten Mal begonnenen Prozess gegen den jungen Mann, der bei seiner Festnahme am 11. März auf einer Autofahrt von Stuttgart nach Ergenzingen einen Polizisten überfahren und schwer verletzt hatte. In seinem Kofferraum damals: knapp vier Kilogramm Marihuana (wir berichteten).

Was am Tag seiner Festnahme genau geschah, muss der junge Mann jetzt vor Gericht noch einmal schildern. Denn rund eineinhalb Monate ruhte der Fall. Wegen einer längerfristigen Erkrankung des Richters muss der Prozess neu begonnen werden.

Der Angeklagte und die Verteidigung hoffen, den Vorwurf des versuchten Mordes zu entkräften. Ihr Argument: Die Polizisten des in zivil operierenden Mobilen Einsatzkommandos (MEK) sollen bei der Verhaftung des Drogendealers in der Stuttgarter Hauptstätter Straße weder durch Westen oder Sturmmasken mit einer Aufschrift "Polizei" als Polizisten erkennbar gewesen sein. Auch ihre Rufe "Polizei! Keine Bewegung" sollen für den Angeklagten und seinen Beifahrer im Auto nicht hörbar gewesen sein. Das bestätigt sogar ein akustisches Gutachten, das dem Landgericht vorliegt.

Die Richter interessiert zum Prozessauftakt die Wahrnehmung des Angeklagten bei seiner Verhaftung. Die MEK-Beamten waren dem Drogendealer auf einer Beschaffungsfahrt mit mehreren Zivilfahrzeugen gefolgt. Kurz vor einer roten Ampel in der Stuttgarter Innenstadt entschließen sie sich zum Zugriff.

Einsatzkräfte mit der Waffe im Anschlag

Mit einem Wagen setzen sie sich vor das Auto des Drogendealers, bremsen diesen ab. Ein weiteres Auto bringen die Beamten neben dem Zielfahrzeug zum stehen. Die Einsatzkräfte stürmen mit der Waffe im Anschlag auf das Auto des Drogendealers zu, rufen laut eigener Aussage "Polizei! Keine Bewegung!"

Der Warnung der Beamten schenkt der Angeklagte aber keinerlei Beachtung. Er drückt auf das Gaspedal, fährt einem MEK-Beamten über den Fuß. Dieser wird unter das Auto gezogen. Der junge Mann setzt sein Auto zurück und überfährt den am Boden liegenden Mann. Der Beamte zieht sich dabei schwere Verletzungen zu. Mit mehreren Schüssen stoppen die Beamten den Fahrer schließlich.

Für den 23-Jährigen stellt sich die Situation jedoch anders dar: "Ich habe zwei maskierte Männer mit gezogener Waffe gesehen", sagt er vor Gericht. Schon Wochen vorher habe er Probleme mit anderen Drogenhändlern aus dem Raum Böblingen gehabt. Diese sollen ihm mit ernsthaften Schwierigkeiten gedroht haben, sollte er ihnen weiterhin Kunden wegnehmen. Mit dieser Drohung im Hinterkopf habe er reagiert, als er die maskierten Männer auf sich zustürmen sieht.

Er sagt: "Ich habe gedacht, ich werde gerade überfallen. Als ich die Männer mit Waffe gesehen habe, sind bei mir alle Gehirnzellen ausgegangen. Ich wollte nur weg." Die MEK-Beamten habe er nicht als Polizisten wahrnehmen können. Zwar sei die Angst vor der Polizei allgegenwärtig gewesen, doch mit einer Festnahme mitten in Stuttgart habe er niemals gerechnet. Dass der Beamte schwer verletzt wurde, tue dem Angeklagten sehr leid. Er habe ihm schon freiwillig 10 000 Euro Schmerzensgeld bezahlt und Entschuldigungsbriefe geschrieben.

Verteidiger Thilo Bohr äußert sich am Rande der Verhandlung zuversichtlich: "Die Anklage lautet zwar noch auf versuchten Mord. Doch das ist nicht haltbar." Damit komme bei dem Urteil vermutlich nur noch der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zum Tragen. Für seinen Mandanten hofft Bohr auf eine Therapie. Das Urteil in dem Fall wird am Dienstag, 22. Dezember, erwartet.