Nilgün Tasman liest in der Rottenburger Zehntscheuer aus ihrem Buch "Ich träume deutsch und wache türkisch auf". Ihr Neffe Ersan Ertürk singt und spielt zwischendurch traditionelle türkische Lieder. Foto: Begemann Foto: Schwarzwälder Bote

Kultur: Deutsch-türkische Autorin Nilgün Tasman erzählt in der Zehntscheuer, was sie als Kind einer Gastarbeiter-Familie erlebt hat

Für ein Haus am Meer und ein Auto kamen Nilgün Tasmans Eltern nach Deutschland. Nicht länger als zwei Jahre wollten sie als Gastarbeiter fern von ihrer türkischen Heimat leben. Doch Tasman ist immer noch hier, sie hat Bücher geschrieben und Filme gemacht. In Rottenburg erzählt sie bei einer Lesung vom Schicksal ihrer Generation.

Rottenburg. Nilgün Tasman ist in Rottenburg genau richtig. In Kooperation mit dem Städtepartnerschaftsverein Rottenburg-Yalova hatte die Stadtbibliothek die deutsch-türkische Autorin in die Zehntscheuer eingeladen. Der 2015 gegründete Verein setzt sich für ein gutes Miteinander und mehr Verständnis zwischen den Nationalitäten in der Stadt ein. Von Tasman, die heute in Stuttgart lebt, erfuhren die Rottenburger aus erster Hand, wie es war, als Kind von der Türkei nach Deutschland zu kommen und hier aufzuwachsen.

"Die meisten Gastarbeiter wollten nur für zwei Jahre nach Deutschland kommen", erzählt die 50-jährige Tasman zu Beginn der Lesung aus ihrem 2008 erschienenen Buch "Ich träume deutsch und wache türkisch auf". "Ihr Wunsch war ein Haus am Meer und ein Auto. Für beides wollten sie jeweils ein Jahr lang in Deutschland arbeiten." Ihr Vater bewarb sich in Deutschland, als das Land Gastarbeiter suchte. Obwohl ihre Mutter nicht begeistert gewesen sei, zog die Familie von Istanbul nach Göppingen. "Wir saßen auf gepackten Koffern", erzählt sie. Schließlich wollte die Familie nicht länger als zwei Jahre bleiben. Für ihre Eltern, die so gut wie kein Deutsch gesprochen hätten, sei sie das Sprachrohr zur Außenwelt gewesen.

Traumatisches Erlebnis

Die Sprache habe sie auf der Straße gelernt. Darunter auch einen schwäbischen Satz, den sie immer gesagt habe, wenn tagsüber jemand an der Tür klingelte: "Meine Mama ist gerade Brezeln holen gegangen." Denn die Leute sollten nicht bemerken, dass die Fünfjährige alleine zuhause ist. Doch eines Tages im Jahr 1973 traf ein, was weder die Eltern noch die kleine Nilgün gewollt hätten: Sie musste in den Kindergarten gehen. Ein traumatisches Erlebnis für das Mädchen. Tasman erzählt von den Prügeln, die sie von einer Schwester der katholischen Einrichtung erhalten habe, von den Demütigungen, die sie habe ertragen müssen. Ihre Mutter habe darüber nachgedacht, Anzeige zu erstatten. Doch wäre eine Anzeige seitens einer Migrantenfamilie ernst genommen worden? Daran habe die Familie gezweifelt. Doch sie hatten Glück: Zwei Wochen später sei der Kindergarten geschlossen worden, weil ein katholischer Junge geschlagen worden sei.

Verwirrend für das Mädchen seien auch die Religionen gewesen. Das Kruzifix im katholischen Kindergarten sei ihr in etwa so unheimlich gewesen wie die prügelnde Schwester. Trotzdem habe sie der christlichen Religion als Kind etwas abgewinnen können. Denn zuhause seien viele Dinge als Sünde bezeichnet worden. Bei zu vielen Sünden habe die Hölle gedroht. "Und die türkische Hölle ist der Hammer", sagt sie dem Rottenburger Publikum. Die Katholiken hätten es da einfacher gehabt. "Sie setzen sich in einen Holzkasten und wenn sie wieder raus kommen ist es, als hätten sie nichts gemacht", erzählt sie in Bezug auf die Beichte. "Deshalb habe ich zu Gott gebetet, wenn ich etwas angestellt hatte, und zu Allah, wenn ich mir etwas gewünscht habe."

Noch vieles weitere erzählt sie an dem Abend ihren Zuhörern. Von den Ferien in der Türkei, ihrer Mutter, die aufgrund ihrer Entwurzelung aus der Türkei Depressionen bekommen habe, und einem Ratschlag, der ihr immer wieder gegeben worden sei: "Viel Tinte zu lecken", also eine gute Schulausbildung zu genießen.

Suche nach Identität

"20 Jahre Deutschland haben aus uns Deutsch-Türken gemacht", liest sie zum Ende hin vor. Heute seien viele Türken in Deutschland auf der Suche nach ihrer Identität, sagt Tasman später im Gespräch mit unserer Zeitung. "Es ist ein Volk entstanden, das heimatlos ist." Sie beschreibt die Wandlung der türkischen Gesellschaft bildhaft: "Früher hatten die Menschen einen Koffer, der mit Werten gefüllt war. Doch irgendwann ist der Koffer leer." Was heute noch bleibt, sei eine "Handy-Generation mit leerem Koffer". Auf der Suche nach Identität könne Diskriminierung Menschen dazu bringen, den Islam zu verteidigen, auch wenn sie nicht religiös sind, oder Erdogan zu wählen.

In einer Situation, in der die "Deutsch-Türken" in Deutschland Türken sind und in der Türkei Deutsche, definiert Tasman Heimat auf ihre eigene Art. Sie sagt: "Wir sollten aufhören, Heimat und Identität an einem Ort festzumachen." Sie rät dazu, Menschen als Individuen zu sehen. Heimat könne dort sein, wo Freundschaften sind.

Gutes Miteinander

Freundschaften zwischen Deutschen und Türken wünscht sich auch der Partnerschaftsverein Rottenburg-Yalova. Ein stärkeres Miteinander möchte der Verein mit Lesungen oder Bürgerbegegnungen wie dem "White Lunch" fördern. Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, dass es bei den Aktivitäten des Vereins auch um das "Wertgefühl" der Migranten gehe. Migranten hätten dabei die Gelegenheit, einmal andersherum den Deutschen etwas zu erklären. Er wünsche sich, dass sich noch mehr Türken in dem Verein engagieren.

Ein wichtiger Baustein der Städtepartnerschaft sind die gegenseitigen Besuche. Interessierte aus Rottenburg unternehmen vom 10. bis 17. März eine Bürgerreise nach Yalova, das südlich von Istanbul liegt. Auch Neher fährt mit in die Türkei, sagt er im Gespräch. Ihm gefalle es, dass anders als in Rottenburg in dem beliebten Ferienort auch abends nach 20 Uhr in der Stadt noch etwas los sei.