21- und 24-Jähriger müssen sich nach nächtlicher Fahrt mit Todesfolge vor Gericht verantworten.
Rottenburg-Wurmlingen/Tübingen/Sulz - Der Gerichtssaal 120 des Landgerichts Tübingen. Kai K. (21, Name geändert) weint, hält sich die Ohren zu. Denn: Der Vorsitzende Richter Christian Mezger lässt gerade den Polizeinotruf vom 28. April 2019 vorspielen.
Kai und sein Freund Mahir K. (24, Name geändert) aus dem Raum Sulz hatten einen Fußgänger überfahren. Danach fuhren sie zuerst heim und schließlich doch wieder zurück.
Richter Mezger sagt zu Beginn des Prozesses: "Das ist ein Alptraum für alle Eltern – zu erfahren, dass das eigene Kind beim Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. So etwas strafrechtlich aufzuarbeiten, ist nicht einfach!"
Anklage wegen versuchten Mordes
Fakt ist: Mahir K., der damals am Steuer saß, ist wegen fahrlässiger Tötung und versuchten Mordes in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort angeklagt. Sein Freund Kai wegen unterlassener Hilfeleistung.
Richter Mezger: "Das 18-jährige Opfer ist über die Straße gelaufen und hat insofern auch einen Anteil am Unfall. Es mag vielleicht schwer zu verstehen sein, wenn es nur zur Anklage von versuchtem Mord gekommen ist. Nach derzeitigem Stand müssen wir davon ausgehen, dass das 18-jährige Opfer nicht zu retten gewesen wäre. Wäre der 18-Jährige zu retten gewesen, hätte der Vorwurf auf vollendeten Mord gelautet." Der zweite Teil der Anklage beruhe auf dem Fehlverhalten von Mahir im Verkehr.
Doch was war geschehen? Laut Staatsanwältin waren die beiden aus dem Raum Sulz in dieser Nacht in der Disco "Top Ten" in Tübingen. Früh morgens fuhr Mahir los mit einem BMW. Zwischen 4.45 Uhr und 4.50 Uhr Richtung Wurmlingen dann der Unfall.
Der "stark alkoholisierte" Viktor G. (18, Name geändert) lief mit grellgrünen Kopfhörern über den Ohren und einem schwarzen Rucksack über die Straße. Der BMW rammte ihn mit gut 75 km/h. Viktor flog aufs Dach und neben die Straße. Die Windschutzscheibe splitterte so, dass Beifahrer Kai sogar blutige Verletzungen am Knie hatte.
Opfer konnte nicht mehr reanimiert werden
Trotzdem fuhren beide weiter. Zu Hause klingelten sie bei Mahirs Schwager, dem das Auto gehörte. Ihm erzählten sie, dass sie ein Tier angefahren hätten. Weil das vordere Kennzeichen fehlte, drängte der Schwager darauf, dass man wieder zur Unfallstelle zurückfährt. Um 6.12 Uhr rief Kai dann den Notruf der Polizei.
Die Staatsanwältin: "Nicht geklärt ist, was die Angeklagten zwischen 5.42 bis 6.09 Uhr in Wurmlingen gemacht haben." Nach dem Anruf von Kai kamen Polizei und Notarzt. Doch, so die Staatsanwältin: "Obwohl das Opfer bis 7.07 Uhr reanimiert wurde, konnte der Tod nicht mehr verhindert werden."
Im Gerichtssaal ließ der Vorsitzende Richter dann diesen Notruf vorspielen. Man hört Kai: "Wir dachten, wir hätten ein Tier angefahren. Ein Reh oder ein Wildschwein. Dann sind wir zum Schwager gefahren. Er hat gesagt, wir müssen sofort umdrehen. Jetzt hat sich herausgestellt, es ist ein Mensch!"
Angeklagter weint im Gerichtssaal
Dann sagt Kai mit tränenerstickter Stimme: "Der spricht nicht mehr. Was sollen wir machen? Der liegt da. Soll ich gucken, ob der noch lebt?"
Der Polizist: "Ja. Versuchen sie ihn zu reanimieren." Kai: "Ich laufe hin." Der Polizist fragt, ob der Anrufer das Unfallopfer umdrehen kann. Kai ist mit verzweifelter Stimme zu hören: "Ich versuch's ja, ich versuch's ja!" Dann hört man das Martinshorn des inzwischen alarmierten Streifenwagens, der Anruf endet.
Fakt ist: Während der Unfallaufnahme wurde beiden Angeklagten auch Blutproben entnommen. Mahir hatte 0,56 Promille nach 7 Uhr im Blut, Kai 0,26 Promille.
Im Gerichtssaal hält sich Kai während des Notrufs die Ohren zu. Weint. Sein Verteidiger Patrick Bittigkoffer reicht ihm ein Taschentuch. Sein Mitangeklagter Mahir sitzt mit zusammengekniffenen Lippen da, lässt keine Regung erkennen.
Gedenkstätte erinnert an das Drama
Ein Drama. Davon zeugt heute noch eine Gedenkstätte ohne Namen, aber mit einer Sonne gegenüber der Einfahrt Rittweg.
Am 28. April bot sich der Polizei beim Eintreffen ein auf den ersten Blick verwirrendes Bild: Drei Männer stehen gegenüber am Rittweg, rufen und gestikulieren. Das Auto – unbeschädigt. Denn der Schwager von Mahir hatte beide in sein Auto gepackt und ist gleich – wie er sagt – zur Unfallstelle gefahren. Und alle Polizisten bestätigen, dass der Schwager erzählt habe, dass beide ihm Zuhause erzählt haben, sie hätten entweder ein Wildschwein oder einen Menschen angefahren.
Als die Polizei bei den Eltern des Unfallopfers klingelt, ist der Vater geschockt. Lässt die Beamten nicht in die Wohnung. Sagt nur: "Mein Sohn ist immer die Straße langgegangen. Vor ein paar Wochen hat ihn die Feuerwehr mitgenommen, weil es so gefährlich ist. Ich habe ihm das dann verboten – weil ein paar hundert Meter entfernt der Radweg entlangläuft."
"Beide waren total geschockt"
Insgesamt waren zwei Streifen bei der Unfallaufnahme vor Ort. Eine Polizistin: "Beide waren total geschockt. Kai musste spucken, Mahir hat gezittert. Er hat gesagt, dass er der Fahrer ist und hat gleich den Führerschein abgegeben."
Ein Kollege suchte die Straße ab, fand noch einen Schuh, dass Kennzeichen des BMW 50 Zentimeter vor den Füßen des Opfers. Ein Polizist versuchte, Victor zu reanimieren. Er sagte: "Vitalzeichen wie Atem oder Puls habe ich nicht gespürt. Am Hals war er noch warm. Als ich auf die Lunge gepresst habe, kam beim zweiten Mal Blut aus dem Mund." Dann übernahmen Notarzt und Rettungswagen – versuchten gut 20 Minuten vergeblich, Victor wieder zu reanimieren.
Die Angeklagten – zum Prozessauftakt zeigten sie beide Reue. Mahirs Verteidiger Hans-Jürgen Geprägs verliest nach der Anklage gleich eine Erklärung: "Das Schicksal hat am 28. April für wenige Sekunden drei junge Männer im Alter von 18, 21 und 24 Jahren zusammengetragen. In den Sekunden ist Fürchterliches geschehen. Der 18-Jährige hat keine Chance mehr, das Geschehen aufzuarbeiten. Die beiden anderen schon. Das entscheidende Fehlverhalten liegt bei Mahir. Er hat den Unfall verursacht und den entscheidenden Fehler begangen. Ich hoffe, dass die Familie des Opfers und seine Freunde zumindest zur Kenntnis zu nehmen, dass er seine Verantwortung wahrnimmt und es bedauert. Ich hoffe, dass das Schwurgericht eine gute Aufarbeitung hinbekommt, damit alle das Trauma verarbeiten können."
"Geschehen lässt sich nicht rückgängig machen"
Mahir selbst lässt in den persönlichen Angaben schon durchblicken, wie sehr ihn dieser Unfall beschäftigt: "Seitdem kann ich kaum noch eine Nacht durchschlafen. Ich war sogar in einer stationären psychiatrischen Behandlung. Trotz meines Besuchs in der Klinik raubt mit der Unfall von damals immer noch den Schlaf. Hätte ich die Chance, was zu ändern, dann wäre es dieser Tag." Seit dem Unfall geht er auch nicht mehr feiern und trinkt nur noch selten bei Hochzeiten oder Geburtstagen.
Mahir ist froh, dass "endlich das Gerichtsverfahren beginnt. Noch mehr im Kopf über das Geschehen nachzudenken, hat mich nicht glücklicher gemacht."
Und was sagt der in Horb geborene Kai? Sein Verteidiger Bittigkoffer liest zunächst eine Erklärung vor: "Das Geschehen lässt sich nicht rückgängig machen. Mein Mandant ist sich bewusst, dass juristische Würdigung vorangehen muss." Der Angeklagte wolle den Hinterbliebenen sein Beileid aussprechen.
Ähnlich wie sein Freund Mahir hat der 21-Jährige gleich nach der Schule eine Ausbildung gemacht, arbeitet seither in der Produktion. Nach dem Unfall war er krankgeschrieben. Kai: "Ich habe das ein bisschen anders gehandhabt. Ich bin nach drei Wochen wieder arbeiten gegangen, weil ich nicht daheim bleiben konnte. Die Familie hat mir viel geholfen, auch meine Freundin. Ich brauche einen geregelten Ablauf."
Fakt ist aber auch: Weil Kai unter Marihuana-Einfluss am Steuer erwischt wurde, musste er den Führerschein abgeben. Vor drei Wochen musste er die sogenannte "Medizinisch-psychologische Untersuchung" machen – nach einem Abstinenzprogramm.