Bei der Auftaktveranstaltung des Aktionsbündnis Galgenfeld zum Wahlkampf um den Bürgerentscheid ist die Rottenburger Zehntscheuer rappelvoll. Foto: Lück

Thomas Weigel provoziert Aktionsbündnis Galgenfeld. Buh-Rufe und heftige Diskussionen sind die Folge.

Rottenburg - Damit hat sich Rottenburgs Baubürgermeister Thomas Weigel keine Freunde gemacht. Bei der Veranstaltung des Aktionsbündnis Galgenfeld sorgt er für einen Eklat – Buh-Rufe und heftige Diskussionen vor der Zehnscheuer inklusive.

21.48 Uhr. Der Vortrag von Niko Paech zum Thema "Das Wachstumsdogma hat sich überlebt" ist zu Ende. Fragestunde. Dann greift Rottenburgs Baubürgermeister Thomas Weigel zum Mikrofon. Er will noch einen "Hinweis" geben.

Dann legt er los: "Lesen Sie sich den Punkt durch, über den der Bürgerentscheid geht. Man will nur ein Gewerbegebiet in Kiebingen ausschließen. Ich schließe daraus, dass das Aktionsbündnis mit der Weiterplanung der anderen Gewerbegebiete kein Problem hat."

Die Zuhörer in der übervollen Zehntscheuer flippen aus. Buh-Ruhe, Pfiffe. Weigel dreht sich um Richtung Ausgang. Sagt noch: "Da zeigt sich wieder, an wem die Kinderstube mit dem D-Zug vorbeigerast ist. Es ist der Gipfel, dass man mich hier ausbuht."

Meinrad Kreuzberger vom Aktionsbündnis Galgenfeld, das sich gegen ein bis zu 30 Hektar großes Gewerbegebiet vor Kiebingen wehrt, versucht, die Gemüter zu beruhigen. Das Publikum wird etwas ruhiger. Kreuzberger: "Damit sind wir gerade so am Eklat vorbeigeschrammt."

Von wegen! Vor der Tür wird der Bürgermeister gleich von zwei Anhängern des Aktionsbündnis angegangen. Einer sagt: "Das ist eine peinliche Provokation." Anders Zmaila aus Tübingen: "Die Aussage mit der Kinderstube ist unterstes Niveau."

Weigel versucht, sich zu wehren: "Ich als Bürgermeister muss die Beschlüsse des Gemeinderats umsetzen. Das ist meine Aufgabe."

Das Team des Aktionsbündnis um Kreuzberger erklärt, warum die Aussage von Baubürgermeister Weigel so provokant ist. Eine Frau erklärt: "Das Regierungspräsidium hat uns gezwungen, aus einem der sieben Beschlüsse des Gemeinderats nur einen herauszunehmen, über den im Bürgerentscheid abgestimmt werden darf. Dass er uns das jetzt vorwirft, ist eine Unverschämtheit. Klar ist doch folgendes: Wenn sich die Bürger gegen das Gewerbegebiet Galgenfeld entscheiden, ist das ein deutliches Zeichen ans Rottenburger Rathaus, dass bei den anderen geplanten Gewerbegebieten die nächste Niederlage durch den Widerstand der Bürger droht."

Zuhörer müssen stehen

Und der Tübinger Zmaila erklärt, warum ihn die Weigels Worte so getroffen haben. Der Stufenleiter des Albert-Einstein-Gymnasiums in Reutlingen: "So eine unangemessene, provozierende Art habe ich noch nie erlebt. Es geht bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um das Gewerbegebiet an sich. Sondern um das sensible Thema, wo es um ein demokratisches Miteinander geht. Und auch um die Frage, wie man nach dem Entscheid – egal, wie er ausfällt –miteinander umgeht. Wenn Herr Weigel jetzt Gräben aufreißt und eine Lagerspaltung befördert, dürfte das die Stadtgesellschaft und den Zusammenhalt nachhaltig beinträchtigen. Damit schadet Weigel sich und dem gesamten Rathaus."

Die erste große Auftaktveranstaltung des Aktionsbündnis Galgenfeld zum Wahlkampf um den Bürgerentscheid zum 21. Oktober dürfte den Gegnern der Gewerbegebiete dagegen genutzt haben. Die Zehntscheuer: rappelvoll. Geschätzt 40 Zuhörer mussten sogar stehen – darunter der Baubürgermeister.

Und mit dem Oldenburger Niko Paech und seinem Thema: "Das Wachstumsdogma hat sich überlebt" hat der Professor an der Uni Siegen genau das getroffen, was – nicht nur die Gegner von Gewerbegebieten umtreibt. Wie geht es mit der Wirtschaft weiter?

Paech – von Ralf Hücks als "Grüner Pol Pot" im Spiegel betitelt, wie er in Rottenburg genüsslich erzählt, ist Deutschlands bekanntester Wachstumskritiker. Schnelle Worte, eindrucksvolle Folien und provokante Fakten.

Paechs Thesen: Die industrielle Revolution 3.0 hat dazu geführt, dass durch das Produktivitätswachstum immer weniger Beschäftigte benötigt werden. Der Ausweg: Enormes Wachstum durch Mehr-Produktion. Paech: "VW in Wolfsburg hat Roboter aufgestellt und benötigt deshalb halb so viele Mitarbeiter. Jeder Politiker will Vollbeschäftigung. Also muss VW doppelt soviel Golfs wie vorher produzieren."

Fährt man diesen Wachstumskurs weiter, müssen natürlich auch immer neue Fabriken gebaut werden – auf immer neuen Gewerbefläche. Paech: "Inzwischen gab es in Deutschland im Jahr 2017 insgesamt 43 357 Quadratmeter Siedlungs- und Verkehrsfläche. Dabei sind die Flächen, die für Windkraft genutzt werden und damit degradiert werde – so der Fachbegriff – noch gar nicht enthalten. Je mehr freie Flächen jetzt noch versiegelt werden, umso höher ist der ökologische Schaden. Denn freie Flächen dienen als sogenannte CO2-Senken – bauen das Klimagas also ab. Dazu benötigt man sie, um Starkregenfälle sozusagen abzufedern."

Irgendwann ist Schluss

Und weil die "Immer Mehr"-Produktion auch immer mehr Ressourcen verbraucht, ist irgendwann mal Ende im Gelände. Unabhängig mal von den ökologischen Schäden. Paech: "Man weiß heutzutage, dass es bei der Artenvielfalt sogenannte Tipping Points gibt. Sie nimmt nicht nach und nach ab – sondern in Sprüngen."

Sein Gegenkonzept deshalb: Abspecken. Nur noch 20 Stunden die Woche arbeiten und Geld verdienen. Das heißt: scheinbarer Verzicht. Das Smartphone nicht immer neu kaufen, das Laptop reparieren lassen. Kurbelt dann die Reparatur-Wirtschaft vor Ort an. Und die Verleih-Geschäfte. Paech: "Warum soll es nicht einen Rasenmäherverleih geben." In Gemeinschaftsgärten wird eigenes Gemüse angebaut, und statt alles zu kaufen oder zu bezahlen, tauschen die Menschen in ihrer freien Zeit ihre Begabungen. Der eine pflegt den Garten oder macht Honig, der andere repariert den PC oder macht die Buchhaltung. Du lernst oder machst Kunst.

Paech: "Eine Wirtschaft, die mehr erhält als produziert, erhält Arbeitsplätze vor Ort. Und die Glücksforschung zeigt – obwohl jeder Deutsche inzwischen 10 000 Konsumgegenstände besitzt, dass die Zufriedenheit zurückgeht!"

Nur noch halb so viel arbeiten? Halb soviel verdienen? Kann das klappen? Paech: "Vor nichts haben Politiker mehr Angst, als nicht alles für die Vollbeschäftigung zu tun. Auch in der Bevölkerung gibt es Ängste vor der 20-Stunden-Woche. Doch wenn wir Netzwerke aufbauen, die durch glaubwürdige Bilder zeigen, dass es funktioniert und das Leben gelingender wird, kann das auf Dauer zum Modell werden!"

Der anwesende BUND-Vertreter kündigt an, dass am nächsten Tag das erste Treffen für ein Repair-Café in Rottenburg ist. Donnernder Applaus.

Die nächste Frage geht dann um die Rathaus-Argumente: "Es heißt: Rottenburg hat eine zu hohe Auspendlerquote. Wenn wir hier Gewerbegebiete haben, wird weniger gependelt?"

Paech: "Mit neuen Gewerbeflächen wird die Rüstungsspirale nur angestachelt. Stuttgart zieht dann nach, andere Kommunen auch."

Der nächste Frager sagt: "Die Stadt hat einen neuen Wirtschaftsförderer eingestellt, der sagt: Wir brauchen mehr Reichtum, deshalb mehr Gewerbegebiete. Dabei muss die Infrastruktur wie Straßen oder diese Flächen auch unterhalten – und das kostet immer mehr Geld. Wir müssen die Politik ermutigen, den Spagat zu wagen und mehr auf Eigenversorgung zu setzen. Das wäre eine geeignete Wirtschaftsförderung für Rottenburg."

Und das gefällt dem Wachstumskritiker. Er sagt: "Das Aktionsbündnis und der Konflikt bietet einen Chance, sich einzusetzen für eine andere Art von Wohlstand – direkt vor Ort in Rottenburg."

Der Eklat um Baubürgermeister Weigel, Nachdenkenswertes von Deutschlands bekanntestem Wachstumskritiker. Was sagt das Aktionsbündnis Galgenfeld zu dem Abend?

Meinhard Kreuzberger: "Die Resonanz hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen – der Vortrag war ein voller Erfolg. Auch Schüler und Studenten waren dabei. Ich denke, damit haben wir das Gesamtthema, um das es geht, perfekt getroffen!"

Und was sagt der Wachstumskritiker? Paech: "Ich bin begeistert von der Dynamik und der Motivation dieser Initiative. Toll, dass sie nicht nur gegen den schweren Einschnitt in die Ökosphere kämpfen, sondern auch um Alternativen kämpfen und darüber nachdenken."