Nico Endress liebt die bunten Bilder in Zeitschriften. Er hat das Syngap-Syndrom – als eines von ganz wenigen Kindern in Deutschland. Heute wird er 16 Jahre alt. Foto: Privat

Familie des 16-Jährigen hat mittlerweile gelernt, mit der seltenen Krankheit des Jungen zu leben.

Rosenfeld - Nico legt den Kopf auf die Schulter von Vater Thilo. Beide lachen, als Musik aus dem kleinen Computer ertönt. Sie haben also richtig gerechnet. Auf der Fensterbank hinter dem Esstisch knabbert ein Nymphensittich ein paar Körner. Auf die Frage, ob sein Sohn Durst hat, antwortet der 16-Jährige mit Gesten. Ein ganz normaler Samstagnachmittag bei einer Familie mit einem außergewöhnlichen Kind. Nico hat das Syngap-Syndrom und ist damit eines von ganz wenigen Kindern in Deutschland mit dieser Diagnose.

Die Schwangerschaft, erinnert sich der 48-jährige Familienvater, sei völlig normal verlaufen. Als Baby war Nico vielleicht etwas ruhiger, als andere Babys. Aber welche Eltern freuen sich nicht, wenn der Nachwuchs kein Schreikind ist. Der Kinderarzt hielt den Säugling für etwas langsamer als andere, erst mit Anderthalb brabbelte Nico. "Aber das war irgendwann wieder weg."

Krankheit wurde von Humangenetikern identifiziert

Hinzu kamen epileptische Anfälle. Sitzen konnte der Kleine auch nicht. Die Familie begann einen Ärztemarathon. Offiziell lautet die Diagnose in etwa Autismus mit geistiger Entwicklungsverzögerung. Das muss auf dem Papier stehen, damit Nico die bestmögliche Förderung erhält. Denn das Syngap-Syndrom ist so selten, dass es bei ihm erst von den Humangenetikern der Uniklinik in Tübingen festgestellt werden konnte. Nach zahllosen Untersuchungen bei Fachärzten und in Krankenhäusern wussten Thilo Endress und seine Frau endlich, was mit ihrem Sohn los ist. Und erfuhren, dass sie keine Genträger sind. Nicos jüngerer Bruder Tim wurde geboren.

Im Hintergrund läuft fröhliche Kindermusik. "Nico weiß bei jeder CD ganz genau, welches Lied in welcher Reihenfolge drauf ist", berichtet sein Vater und wechselt nebenbei in aller Ruhe und genau beobachtet von seinem Sohn die Batterien an einem der Rechencomputer. "Beim Memory ist mein Nico unschlagbar gut." Was er lapidar mit "übersäuertem Gen" erklärt, wenn Fremde ihn fragen, hat den Alltag der ganzen Familie auf den Kopf gestellt.

Junge weint, wenn andere Kinder geschimpft werden

Es gab eine Zeit, berichtet Vater Endress, da war es schwer, den jüngeren Bruder vor Nico zu beschützen. Der meint seine Anfälle nicht böse, sie sind Teil seiner Behinderung. Heute ist Nico super drauf. Er malt gerne. Ist extrem anhänglich. Und weint in der Schule, wenn mit einem anderen Kind geschimpft wird. Das wissen die Eltern aus den sorgsam von Lehrern und Pädagogen ausgefüllten Tagebüchern, die ihr Sohn freitags aus dem Internat der KBF in Mössingen mitbringt. Thilo Endress schluckt traurig.

Es war eine schwere Entscheidung, Nico nicht mehr zu Hause zu haben. "Aber eines Tages hat er sich geweigert, mit dem Schulbus zu fahren, immer wieder." Es war schlicht unmöglich, ihn die steilen Treppen vom Wohnhaus hinunterzutragen. Aber Schule muss sein, auch für außergewöhnliche Kinder wie Nico. In Mössingen hat er einen Computer, auf dem er mittels Symbolen kommunizieren kann. Der Junge drückt auf eine Taste, eine elektronische Stimme sagt zum Beispiel "Guten Morgen".

Ein paar tausend Euro hat der Sprachcomputer gekostet, zu Hause funktioniert das Gespräch mit laminierten Symboltafeln. Hat Nico keinen Hunger mehr, zeigt er auf dem selbst gebastelten Platz-Set auf die Zeichnung für "Fertig".

Seltener genetischer Defekt 2009 erstmals nachgewiesen

Familie Endress möchte die Erkrankung ihres Sohnes bekannt machen. Damit vielleicht mehr geforscht wird. Derzeit wird ihrem Sohn mit Medikamenten gegen die Epilepsie geholfen. Er bekommt Logopädie und Gymnastik. Unterrichtet wird er in der Dreifürstensteinschule in Mössingen. Dort hat er auch ein paar Gebärden gelernt. Er braucht einen vorhersehbaren und überschaubaren Tagesablauf. Kräftezehrend auch für die Familie. Früher sind sie oft und gerne ins Schwimmbad gefahren. Heute kann es sein, dass Nico partout nicht aus dem Auto aussteigen will. Ein paar Mal mussten die Endress’ schon unverrichteter Dinge umkehren.

Nico kuschelt sich an seinen Vater und lacht. Die Batterien sind im Gerät. Und er taucht ab in seine ganz eigene Welt, in die niemand anders vordringen kann.

Als "Syngap-Syndrom" wird ein seltener genetischer Defekt bezeichnet. Der kanadische Mediziner Dr. Jacques Michaud von der Universität in Montreal wies 2009 den ersten Syngap-Fall nach. Das nach dem betroffenen Gen benannte Krankheitsbild tritt zufällig bei der Zeugung auf. Betroffene Kinder sind meist Autisten. Sie sind geistig behindert und in ihrer motorischen Entwicklung stark hinter den Altersgenossen zurück. Sie können nicht sprechen und haben oft epileptische Anfälle.