Große Gefühle: Birgit Keil und Nikolay Godunov. Foto: Stuttgarter Ballett

Große Gefühle gibt es hier fast täglich, auch an diesem Sonntag. Und doch war an dem Tag, an dem das Stuttgarter Ballett den 50. Geburtstag des vielleicht wichtigsten Werks in seinem Repertoire feierte, alles anders. Denn ohne über Richard Cragun zu sprechen, kann man nicht an „Romeo und Julia“ erinnern.

Die Tränen, die an diesem Sonntag im Stuttgarter Opernhaus flossen, waren echt, und es waren viele. „In memoriam Richard Cragun“ stand unter einem Foto, das den Tänzer als Romeo zeigte. Seinem großen Star, der am 6. August dieses Jahres im Alter von 67 Jahren zu jung gestorben war, widmet das Stuttgarter Ballett nicht nur die aktuelle Spielzeit, sondern auch ganz speziell diesen Abend. Genau 50 Jahre nach der Uraufführung von John Crankos „Romeo und Julia“ erinnerte die Kompanie mit einer Galavorstellung an ein Ereignis, das am 2. Dezember 1962 vielleicht die Geburtsstunde des Stuttgarter Balletts war.

Doch bevor sich der Blick auf das am Sonntag von vielen Ehrengästen bevölkerte Verona öffnet, gehört die Aufmerksamkeit dem Tänzer, der die Rolle des Romeo über Jahre hinweg prägte. Fotoprojektionen zeigen Richard Cragun in seinen großen Rollen. Mit einem vergleichsweise winzigen Auftritt gleich in der ersten Szene hatte seine „Romeo und Julia“-Karriere begonnen. Wer hatte bislang den abgerissenen Bettler wahrgenommen, der im Hintergrund von den Marktleuten Essbares schnorrt?

Vorn passiert auf der von Jürgen Rose in prächtigen Farben ausgestatteten Szene auch an diesem Abend so viel. Aber heute blicken wir durch das bunte Treiben hindurch bis in die Tiefe, sehen „Romeo und Julia“ wie beim ersten Mal – auch den Bettler, dem nun Robert Robinson mit anrührendem Erfolg eine Mahlzeit verschafft.

Mehr als ein halbes Jahrtausend Bühnenerfahrung saß da an der Rampe im Opernhaus zusammen

Unter Tränen an Richard Cragun erinnert, aber auch den Blick für Details geschärft hatten am Vormittag die acht berühmten Gäste eines Ballettgesprächs. Mehr als ein halbes Jahrtausend Bühnenerfahrung saß da an der Rampe im Opernhaus zusammen, erinnerte sich, feinfühlig von der Moderatorin Vivien Arnold dirigiert, an die Zeit, als John Cranko „Romeo und Julia“ in Stuttgart erarbeitete. Ray Barra und Marcia Haydée, Crankos Ur-Liebespaar, erzählten, wie leicht er seine Schrittfolgen fand, ganz auf das Können seiner Tänzer vertrauend, und wie besessen er an kleinen Details feilte. „John hat schnell und leicht choreografiert“, sagt Marcia Haydée, „aber für die kleinen Gesten hat er sich unheimlich viel Zeit gelassen.“

Wie wickelt Romeo eine Haarsträhne Julias um den Finger? Wie zeigt sich die wachsende Vertrautheit der beiden darin, wie sie ihm übers Haar streicht? Marcia Haydées elektrisiertes Erschrecken über die neue Nähe ist wunderschön, als sie die Entwicklung dieses Tanzes von Händen und Haaren mit Ray Barra noch einmal spielt. Wie unter dem Vergrößerungsglas ruht am Abend der Blick auf den jungen Stars: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel sind sich des Gewichts einer jeden Geste bewusst und füllen sie doch mit einer jugendlichen Leichtigkeit, die diese Liebe auch nach 50 Jahren keusch und unberührt aufkeimen lässt. „John Cranko hat uns sehr viel Freiheit gegeben.“

„Das war ein klein besetztes Nichts“

Was Ray Barra sagt, bestätigen die anderen auf dem Podium. Birgit Keil etwa, die die Faszination „Romeo und Julia“ auf einen Nenner bringt: „Dass eine Choreografie die Persönlichkeit eines Tänzers widerspiegeln muss, hat Cranko wie kein anderer erkannt.“ Jürgen Rose stattete mit „Romeo und Julia“ sein erstes Ballett aus und lernte dabei, wie wichtig es ist, „eine spontane, eigene Linie durchzusetzen“. Jeder bekam von John Cranko die notwendige Zeit, diese zu entwickeln, in eine Rolle hineinzuwachsen: Egon Madsen zum Beispiel in die eines Paris, der „sehr viel arbeiten musste, um diese ganzen Hebungen zu schaffen“. Alexander Jones, der Jubiläums-Paris, hat bereits viel investiert und schenkt Julia makellose Höhenflüge. Auch die Double tours en l’air, diese zweifach gedrehten Sprünge, die Friedemann Vogel, Filip Barankiewicz als Mercutio und Marijn Rademaker als Benvolio mit einem Lächeln meistern, hatten die Stars der ersten Stunde ins Schwitzen gebracht und Cranko dazu, das Virtuose zu reduzieren. Als aufsteigende Sonne, die alles andere verblassen ließ, beschrieb der Stuttgarter Generalintendant Walter Erich Schäfer nach der Premiere „Romeo und Julia“. Hatte es vor Cranko nicht bereits eine andere Tanzversion dieses Stoffs im Stuttgarter Repertoire gegeben? „Das war ein klein besetztes Nichts“, fasst Georgette Tsinguirides die tatsächlich verblassten Erinnerungen zusammen. Und weil 1962 alle spürten, dass „Romeo und Julia“ der Durchbruch für John Cranko und seine Kompanie war, kann sich jeder an seine erste Begegnung mit dem Stück erinnern: Reid Anderson lenkte eine Fernsehaufzeichnung 1963 vom Bügeln ab, Vladimir Klos erlebte bei der Münchner Premiere 1968 ein atemloses Publikum und sagt: „Mit dieser Intensität der Rollengestaltung ist ,Romeo und Julia‘ das beste Beispiel dafür, wie menschlich und logisch das war, was John Cranko gemacht hat.“

Nicht anders erlebt das Publikum nach 50 Jahren dieses Ausnahmestück: als Sternstunde der Tanzkunst, vom Staatsorchester unter Wolfgang Heinz auch so begleitet, und als Moment, der das Stuttgarter Ballettwunder möglich machte. Dass es jeden Abend neu erfunden werden muss und dies bis heute gelingt, ist vielleicht das eigentliche Wunder.

Am Sonntag jedenfalls ist es ein Kinderspiel, das Generationen von Tänzern in schönster Harmonie eint. Ob Marica Haydée als Amme, Ray Barra als Herzog, Birgit Keil und Vladimir Klos als Capulets, Julia Krämer als Rosalinde, Robert Conn und Melinda Witham als Montagues, Egon Madsen als Pater Lorenzo, Yseult Lendvai, Sonia Santiago und Georgette Tsinguirides als Zigeunerinnen: Jeder kennt dieses Stück aus unterschiedlichsten Perspektiven, jedem ist es (künstlerische) Heimat. Und so herrschte trotz der Fülle von „Debüts“ eine Stimmung der Vertrautheit, in der doch vieles überraschend war.

Das Publikum bedankte sich für einen Ballettabend, wie er vielleicht nur in Stuttgart möglich ist: ein Familienfest, das seine Gäste mit Lachen, Tränen und Erinnerungen reich beschenkt entlässt.

Weitere Aufführungen in Stuttgart

Weitere Aufführungen von „Romeo und Julia“ gibt es in dieser Spielzeit bis zum 8. März. Nach Alicia Amatriain und Friedemann Vogel (8. Dezember) übernehmen Elizabeth Mason und Marijn Rademaker (9. Dezember) sowie Sue Jin Kang und Filip Barankiewicz (18. Dezember) die Hauptrollen. Mehr Informationen gibt es unter www.stuttgarter-ballett.de.