Rolf H. Krauss mit den Fotos aus der Wohnung an der Hölderlinstraße. Foto: Max Kovalenko

Rolf H. Krauss fielen alte Fotos in die Hand, die in der Hölderlinstraße 3 aufgenommen wurden. Krauss hatte dort die ersten 13 Jahre verbracht. Bilder und Erinnerungen prallen aufeinander.

Stuttgart - Rolf H. Krauss fielen alte Fotos in die Hand, die in der Hölderlinstraße 3 aufgenommen wurden. Krauss hatte dort die ersten 13 Jahre verbracht. Bilder und Erinnerungen prallen aufeinander.

Herr Krauss, was ist Ihre erste Erinnerung?
Das kann ich nicht beantworten. Ich habe festgestellt, dass meine Erinnerung verhältnismäßig spät einsetzt. Man sagt, dass man sich an die ersten vier Lebensjahre nicht erinnern kann – bei mir sind es die ersten fünf oder sechs Lebensjahre, von denen ich kaum eine Vorstellung habe. Zudem habe ich gemerkt, dass ich nur sehr punktuelle Erinnerungen habe, an prägende Ereignisse.

Was ist ein Beispiel für eine Erinnerungslücke?
Ich kann mich nicht mehr an mein Kinderbett erinnern, obwohl ich darin jahrelang geschlafen habe. Vielleicht haben sich, wenn man über so lange Zeit im gleichen Bett war, viele Schichten von Einzelerinnerungen überlagert. So dass am Schluss alles so zugeschüttet ist, dass das Hirn nicht mehr in der Lage ist, das Bett zu reproduzieren.

An was können Sie sich hingegen erinnern?
Hm, da gibt es eine merkwürdige Geschichte: Ich sitze auf dem Sofa im damaligen Herrenzimmer. Ich lese das Gedicht „In Straßburg auf der Schanz“. Neben mir läuft das Radio. Und da singt jemand exakt dieses Lied, Strophe für Strophe. Das hat mich als junger Mensch, ich war vielleicht sieben Jahre alt, ungeheuer getroffen. Ich fragte mich: Was will mir das sagen, dieses Zusammengehen der beiden Dinge? Es gibt zu diesem Erinnerungsbild in meinem Kopf auch das entsprechende Foto – aber das Bild im Kopf war zuerst da.

Dieses Foto tauchte erst vor kurzem auf: Ihnen ist ein Album mit Bildern Ihrer damaligen Wohnung in der Hölderlinstraße 3 in Stuttgart in die Hände gefallen. Was hat das ausgelöst?
Ich habe mich schon länger mit dem Thema Fotografie und Erinnerung befasst. Dieses Album mit den Fotos war für mich vor allem insofern interessant, als dass ich die Möglichkeit hatte, praktisch zu prüfen, was Fotos als Erinnerungsauslöser oder auch als Erinnerungsbestätigung bewirken können.

Es war also kein persönliches Interesse an Ihrer Vergangenheit? Sie schreiben, dass man bei fortschreitendem Alter beginnt, sich intensiv mit der eigenen Kindheit zu beschäftigen . . .
Nein, mich interessierte tatsächlich der akademische Ansatz. Im Buch zitiere ich aus einem Brief ans Baurechtsamt, in dem ich um den Grundriss bitte. Was ich dort geschrieben habe, war eine taktische Floskel, damit die Leute sagen: Wenn der alte Herr sich mit seiner Vergangenheit beschäftigen will, dann genehmigen wir ihm das.

„Erinnerungen werden durch Erzählungen, durch Gelesenes oder durch Bilder verfälscht“

Wie sind Sie beim Experiment vorgegangen?
Das Besondere war, dass die Erinnerungen an diese Wohnung abgeschlossen waren, weil das Haus in der Hölderlinstraße im Krieg zerstört wurde. Und vor allem: Sie waren nicht verfälscht – obwohl es sonst praktisch keine unverfälschten Erinnerungen gibt.

Wieso nicht?
Erinnerungen werden durch Erzählungen, durch Gelesenes oder durch Bilder verfälscht. Wenn Sie eine Erinnerung haben, müssen Sie sich sorgfältig prüfen, ob diese originär ist – oder ob Sie nur glauben, das sei eine eigene Erinnerung, weil Ihnen jemand von diesem Ereignis erzählt hat oder weil Sie ein Foto gesehen haben.

Bei Ihnen war das anders . . .
Ja, die Chance bestand darin, dass ich die Bilder noch nie gesehen hatte. So standen auf der einen Seite abgeschlossene Erinnerungen, und auf der anderen Seite stand eine Reihe von Fotos.

Und dann?
Dann habe ich das, was ich im Kopf hatte, mit den Bildern verglichen – also etwa die Anordnung der Zimmer. Und das hat nicht immer zusammengepasst.

Bildet ein Foto für Sie die Realität ab?
Das fotografische Dokument ist gegenüber dem Erinnerungsbild im Kopf immer stärker. Die fotografischen Theoretiker haben zwar herausgearbeitet, dass auch die Fotografie lügt. Aber wenn Sie eine Wohnung durchfotografieren, dann ist das die Wohnung. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Der Autor Jean Paul sagte: „Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Haben die Fotos die Macht gehabt, Sie doch daraus zu vertreiben?
Ja, einverstanden: Die Fotografie ist tatsächlich in der Lage, einen aus dem Paradies zu vertreiben. Deshalb könnte man sich schon auf den Standpunkt stellen, dass man alte Fotografien gar nicht anschauen will, weil sie das Bild, das man hat, korrigieren oder vernichten. Bei mir spielte das keine Rolle.

Können Fotos auch Erinnerungen zuschütten?
In meinem Fall war es eher andersrum: Teil des Experiments war, durch Erinnerungsauslöser – also Fotos – tatsächlich verschüttet geglaubte Erinnerungen ans Licht zu holen. Bei Marcel Proust war dieser Erinnerungsauslöser die berühmte Madeleine, dieses Gebäck, das er in Tee tunkte, und beim Biss hinein hat die Welt seiner Kindheit ihn überflutet. Bei mir war das wie ein Blitz.

Und dann?
Dann kommt harte Erinnerungsarbeit: Sie müssen das, was Ihnen in den Sinn kommt, genau anschauen und Schichten freilegen. Das ist mir gelungen. Ein Tisch hat etwas hervorgerufen, was verborgen war.

„Persönliche Passagen sehr knapp gehalten“

Was war das ?
Ich konnte mich nicht an den Esszimmertisch erinnern, der auf einem Foto abgebildet ist. Ich habe ihn dann genau angeschaut und gemerkt, dass wir über viele Jahre gar nicht an diesem Tisch gegessen haben, sondern zwei Stockwerke tiefer, in der Wohnung meiner Großmutter. Ich erinnerte mich plötzlich wieder daran, dass ich nach der Schule dort klingelte, an die Köchin Senta und daran, dass alle Feste meiner Familie dort gefeiert wurden. Das ist so eine Erkenntnis, die aus diesem Tisch herauskam: Wie Alice im Wunderland, die unter der Baumwurzel verschwindet, bin ich durch diese Tischfläche zwei Stockwerke tiefer gesunken.

Sie sagen, Sie wären nie auf die Idee gekommen, eine Autobiografie zu schreiben. Aber die Fotos haben auch ein sehr persönliches Buch zutage befördert. Wie kam es dazu?
Das hat mich sehr gequält. „Wen interessiert das?“, fragte ich mich, ich bin ja keine berühmte Persönlichkeit.Deshalb habe ich die persönlichen Passagen sehr knapp gehalten und bin immer hart an den Bildern geblieben. Zudem sind diese Erinnerungen in theoretische Kapitel eingeflochten.

Über diese Erinnerungen entsteht aber auch so etwas wie ein kleines Sittengemälde . . .
Ja, aus der Beschäftigung mit dem Thema ergaben sich auch für mich neue Erkenntnisse. Als ich über den strikt getrennten Kinder- und Elternbereich nachdachte, fiel mir auf, dass wir in unserer Wohnung eine der letzten Ausprägungen eines bürgerlichen Wohnstils lebten. Die Erziehung der Kinder war nicht von körperlicher Nähe geprägt. Der Zweite Weltkrieg brachte dann notgedrungen das Ende: Die Wohnungen wurden kleiner, man musste zusammenrücken.

Sie schreiben: „Das Gehirn ist offenbar nicht wählerisch.“ Trifft das heute auf unser Verhalten beim digitalen Fotografieren zu?
Ja. Und diese Flut an Fotos können einen Menschen beeinflussen. Wenn er dauernd Bilder aus seiner Vergangenheit sieht, speichert er diese Fotos als Erinnerung ab – und nicht das Ereignis selbst.

Rolf H. Krauss: Hölderlinstraße 3, Bilder einer Wohnung, Fotografie und Erinnerung. Jonas Verlag, 128 Seiten. 15 Euro.