Die Rodlerinnen Natalie Geisenberger (links) und Anna Berreiter feiern ihren Doppelsieg. Foto: dpa/Robert Michael

Mit 34 Jahren holt die Rodlerin aus Miesbach ihr fünftes Olympia-Gold und zieht damit mit Eisschnellläuferin Claudia Pechstein gleich. Allerdings hat sie eine schwere Nervenprobe zu bestehen – die Schlüsselstelle des Eiskanals macht allen Pilotinnen das Leben schwer.

Yanqing - Geschafft. Zum vierten Mal ist Natalie Geisenberger auf ihrem Schlitten durch Kurve 13 gerast, erneut hat sie die gefürchtete Schlüsselstelle des Eiskanals von Yanqing gemeistert. Geschafft! Gewonnen! Gold! Die linke Faust geht nach oben. Die 34 Jahre alte Rodlerin hat sich mit dem Olympiasieg im Einsitzer einen weiteren Traum erfüllt, nachdem sie bereits vier Goldplaketten von Winterspielen mit nach Miesbach gebracht und insgesamt neun WM-Titel gesammelt hatte. Im Ziel fiel sie Anna Berreiter in die Arme, die sich die Silbermedaille gesichert hatte – und bei beiden kullerten Tränen der Freude.

 

„Das war unser Familienprojekt“

„Ich hab so viel geheult“, sagte Geisenberger noch Minuten nach der Siegerehrung, doch ihr Lächeln verbarg selbst die Maske nicht. Sie hatte das Familienprojekt zum erhofften Ende geführt. Mit ihrem Mann hatte sie nach der Geburt des Sohnes Leo (geboren im Mai 2020) beschlossen, das Comeback ein halbes Jahr nach der Geburt anzugehen und die Spiele in Peking anzuvisieren.

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Der Weg zurück in die Weltspitze war kein Selbstläufer, auch nicht für eine wie sie, aber der Abstand nach vorn verringerte sich nach und nach. Im Dezember 2021 holte sie ihren ersten Weltcup-Sieg als Mutter – es folgte der Olympiatriumph. „Dieses Gold ist für die Familie“, freute sie sich, „das war unser Familienprojekt.“

Viermal durchkommen heißt vorne dabei sein

Wie sauber, akribisch und konzentriert die Rodlerin das Projekt abgeschlossen hatte, verdient höchste Anerkennung. „In Kurve 13 heißt es für mich immer so ein bisschen Luft anhalten. Es war die Stelle, wo ich auch schon gestürzt bin“, hatte Geisenberger vor dem Wettbewerb prophezeit, „wenn ich viermal sauber durchkomme, ist man vorne dabei.“

Gesagt, getan. Mit ihrer fünften Goldenen bei Winterspielen zog sie mit der bis dato erfolgreichsten deutschen Olympionikin Claudia Pechstein gleich – 2014 und 2018 holte die Bayerin jeweils die Siege im Einzel und in der Teamstaffel.

Im Match „Geisenberger gegen Kurve 13“ steht es 4:0

Natalie Geisenberger gegen Kurve 13 – 4:0. Ihre Konkurrentinnen hatten die gefährliche Biege nicht so regelmäßig und souverän bezwungen wie die gebürtige Münchnerin, die Bergauf-Kurve hatte die Gesamtweltcup-Gewinnerin Julia Taubitz im zweiten Lauf abgeworfen vom Fahrzeug, so dass sie ins Ziel schlitterte, was sie um sämtliche Medaillenchancen brachte. Am Ende landete die 25-Jährige auf Platz sieben. „Es tut weh, keine Medaille mitzunehmen“, sagte sie.

Auch Mitfavoritin Madeleine Egle aus Österreich war im Rodel-Rodeo in Kurve 13 einmal aus dem Sattel gehoben worden und gestürzt. Die Österreicherin fand ihren Namen in der Ergebnisliste auf Platz vier wieder. Dass die weniger versierten Starterinnen alle ihre Probleme hatten, muss nicht eigens erwähnt werden.

Die Nerven flattern, aber sie halten

Die Nerven hatten auch bei Geisenberger etwas geflattert, aber sie hatten gehalten. Denn auch die Erfahrene hatte einen riesigen Respekt vor der Kurve wie ein junges Mädchen, das sich vor Hunden fürchtet, aber auf dem Schulweg täglich einen Garten passieren muss, in dem ein wachsamer Schäferhund residiert. „Ich wusste, dass ich es kann“, erzählte sie, „das war das Geheimnis. Ich bin froh, dass ich jedes Mal gut durchgekommen bin.“

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Die Nacht von Montag auf Dienstag vor ihrem Triumph war eine durchwachte, denn sie bekam die 13 nicht aus ihrem Kopf. Zwar hatte sie das „Biest“ in zwei Läufen besiegt, aber sowohl im Olympia-Abschlusstraining als auch bei der Olympia-Generalprobe im Herbst 2021 hatte sie die Prüfung nicht bestanden und war gestürzt.

Berreiter feiert ihre Silbermedaille

„Ich war brutal nervös, nicht wegen des Rennens, sondern wegen der Kurve da unten“, erzählte sie vor den Finalläufen. „Ich habe ganz schlecht geschlafen, bis jetzt nur ein Müsli und ein kleines Snickers gegessen.“ Bundestrainer Norbert Loch verriet am Montagabend, dass die Olympiasiegerin ein Mensch sei, der seine Nerven nicht immer hervorragend im Griff habe. Als es aber drauf ankam, war auf Geisenberger Verlass.

Das galt ebenfalls für Anna Berreiter, die ihre ersten Spiele erlebte und nicht mit großspurigen Medaillenwünschen nach China gereist war. „Meine ersten Spiele und gleich Silber“, jubelte die 22 Jahre alte Berchtesgadenerin, „ich könnte jeden Moment wieder anfangen zu heulen.“ Ob Geisenberger weitermacht, will sie in Ruhe entscheiden, in Taubitz und Berreiter stehen adäquate Erbinnen jedenfalls längst bereit.