Der 29-Jährige ist noch immer ein Spieler, der provoziert – doch für die Nationalmannschaft hat der Spätberufene bei der Heim-EM einen besonderen Wert.
In Robert Andrich muss wohl die Seele eines Raubtieres wohnen. Zumindest lässt die Tätowierung, die seinen gesamten Rücken ziert, darauf schließen. Einen riesigen Löwenkopf hat sich der Mittelfeldspieler stechen lassen, dessen Körper voll mit Tattoos ist. Angsteinflößend wirkt er durch sein äußeres Erscheinungsbild, grimmig mit dem langen Bart – und furchtlos geht er seinem Beruf nach. Das hat dem 29-Jährigen den Ruf eines Fußballrüpels eingebracht, den man lieber in der eigenen Elf sieht als in den gegnerischen Reihen.
Doch Andrich soll privat ein liebenswerter Kerl sein – und er kann mehr, als den Ball in Zweikämpfen zu erobern. Wenngleich er nach dem Motto agiert: lieber eine Grätsche (auf der Wade tätowiert) zu viel. Deshalb steht er im Kader der Nationalmannschaft für die Heim-EM (14. Juni bis 14. Juli) und bringt vor dem Testspiel am Montag (20.45 Uhr/ARD) in Nürnberg gegen die Ukraine das Selbstbewusstsein des Doublegewinners in das Teamquartier ein. „Natürlich stehe ich für eine härtere Spielweise“, sagt der Leverkusener, „aber es ist schon so, dass ich etwas am Ball kann.“
Der Bayer-Coach Xavi Alonso schätzt Andrichs Spielverständnis, zudem hat er in der abgelaufenen Saison wichtige Tore erzielt. Diese Qualitäten fordert ebenso Julian Nagelsmann ein. Der Bundestrainer hat ihn in den elitären Kreis des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) geholt, und jetzt scheint der Spätberufene nach drei Länderspielen seinen Stammplatz gefunden zu haben – an der Seite von Toni Kroos.
Prächtig hat das Mittelfeldtandem auf der Doppelsechs im vergangenen März bei Kroos’ Comeback harmoniert. Dabei ist die Rollenverteilung klar: Der Weltstar von Real Madrid gibt den Generalstrategen auf dem Rasen, der Aufsteiger aus der Bundesliga den Adjutanten, der Kroos jederzeit zu Hilfe eilt. Als Leibwächter, Türsteher und Abräumer wird der laufstarke und 1,87 Meter große Andrich deshalb gerne bezeichnet.
Während des Trainingslagers der DFB-Auswahl in Thüringen ist nun eine Bezeichnung hinzugekommen: Spezialeinsatzkraft. In Anspielung auf die Teambuilding-Maßnahme im Weimarer Land mit dem SEK der Polizei. „Wenn man mich so betiteln will, bitte. Und die Jungs haben auch was drauf. Aber ich sehe mich nicht so“, sagt Andrich.
Gegen sein Image kämpft der gebürtige Potsdamer jedoch nicht mehr an. Seit der Geburt seiner Tochter vor drei Jahren sei er gelassener geworden. Er fegt nicht mehr in jedes Duell, sondern spielt mit mehr Cleverness. Er provoziert auch nicht mehr ständig den Gegner, sondern nur noch gezielt wie im Fall des Franzosen Kylian Mbappé.
„Früher bin ich oft gegen den Strom geschwommen und wollte zu einer Minderheit gehören, die aneckt“, erzählt Andrich in Blankenhain über seine einstige Haltung. Alles, um wahrgenommen zu werden. Nun präsentiert sich ein gereifter Spieler, der großen Erfolgshunger mitbringt und nach Meisterschaft und Pokalsieg mit dem Verein den EM-Titel mit dem Verband anstrebt. Doch nicht in jeder Situation kann Andrich aus seiner Haut heraus. Darauf angesprochen, zu wem er im Champions-League-Finale halte – Real Madrid oder Borussia Dortmund –, meint er: „Klar kann man sagen, als Deutscher ist man für die deutsche Mannschaft. Ich glaube, dass es ein sehr enges Spiel wird. Und am Ende bin ich trotzdem für Real.“