Dekra-Automobilchef Klinke führt die Stadt Reutlingen als positives Beispiel an. Foto: Dekra

Jeder 25. Autoinsasse ist bei der Fahrt in der Stadt nicht angeschnallt. Auch andere Sünden können lebensgefährlich sein. Fußgänger oder Skater, oft mit Kopfhörern unterwegs, sind nicht voll auf den Verkehr konzentriert.

Berlin/Stuttgart - Heute Abend stellt die Dekra in Berlin den Verkehrssicherheitsreport 2014 vor. Thema ist die urbane Mobilität. Im Interview betont Vorstandsmitglied Clemens Klinke, dass die Zahl der Verkehrstoten weiter reduziert werden kann.

Herr Klinke, in den Städten passieren drei Viertel aller Verkehrsunfälle. Warum ist es innerorts so gefährlich?
Hier sind auf engem Raum ganz unterschiedliche Verkehrsteilnehmer unterwegs. Dabei treffen die „Stärksten“ auf die „Schwächsten“: also Lkw, Busse und Pkw auf Fußgänger und Radfahrer. Dazu kommen Straßen- und Stadtbahnen. Das birgt besondere Unfallrisiken.
Wer ist am meisten gefährdet?
Fußgänger und Zweiradfahrer tragen das höchste Risiko. Vor allem die Fußgänger sind weit überdurchschnittlich gefährdet. Ihr Risiko, innerorts ums Leben zu kommen, ist um mehr als das Zehnfache höher als beispielsweise bei Pkw-Insassen. Sehr gefährlich sind auch Kollisionen mit einer Stadt- oder Straßenbahn. 2012 gab es in Deutschland bei Unfällen mit Stadt- und Straßenbahnen insgesamt 38 Todesopfer – davon waren 30 Fußgänger und vier Radfahrer. Zumeist verursachten sie die Unfälle selbst. Besonders sicher unterwegs sind die Insassen von Bussen und Bahnen.
Warum lässt sich nicht wenigstens der Güterverkehr aus den Städten verbannen?
Wenn Sie in der Stadt auch in Zukunft einkaufen wollen, dann haben Sie dort auch in Zukunft Lkw-Verkehr. Welche Verkehrsmengen zusammenkommen, zeigt ein simples Beispiel: Mineralwasser. Wenn man den durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch zu Grunde legt, müssen in einer Stadt mit 500 000 Einwohnern jedes Jahr acht Millionen Kisten angeliefert werden. Macht pro Werktag 16 Sattelzüge allein für Mineralwasser. Damit sind noch keine anderen Getränke, Lebensmittel oder Kleider geliefert. Dazu kommt: Der Verkehr im Bereich Kurier-, Express- und Paketdienste nimmt stark zu. Weil wir alle gerne online bestellen, ist das Sendungsaufkommen seit 2000 um 50 Prozent gewachsen.
Die Automobilbranche entwickelt immer neue Fahrer-Assistenzsysteme. Sind sie wirklich das Allheilmittel?
Sie können viel für die Verkehrssicherheit bewirken. Relativ neu auf dem Markt sind Fußgänger-Schutzsysteme – also Assistenzsysteme, die querende Fußgänger erkennen, den Fahrer warnen und notfalls bremsen. Aber der Lebensretter Nummer eins bleibt der Sicherheitsgurt. Gerade innerorts und bei niedrigen Geschwindigkeiten schnallt sich leider noch immer jeder 25. Autoinsasse nicht an. Viele sitzen dem Irrtum auf, sie bräuchten keinen Gurt und könnten sich notfalls mit den Armen abstützen. Das ist eine fatale Fehleinschätzung, wie unsere Crashtests beweisen. Schon bei einer Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometern wirken bei einem Aufprall auf ein festes Hindernis Kräfte, die dem Achtfachen des eigenen Körpergewichts entsprechen. Kein Mensch kann solche Kräfte abfangen. Wir appellieren deshalb an jeden, sich unbedingt anzuschnallen. Übrigens kann auch nur dann der Airbag richtig wirken.
Wie können die besonders gefährdeten Fußgänger das Risiko eines Unfalls minimieren?
Sie müssen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf den Verkehr richten. Das geht nicht, wenn ich nebenbei auf mein Smartphone starre. Am Steuer ist die Benutzung des Mobiltelefons ja aus guten Gründen verboten. Auch für Fußgänger birgt es große Gefahren, wenn sie sich durch ihr Handy ablenken lassen. Das Thema Kopfhörer ist genauso wichtig:. Wenn ich die außerhalb meines Blickfelds herannahende Straßenbahn wegen der Musik nicht höre, ist das sehr gefährlich. Wir empfehlen daher dringend, ohne Kopfhörer unterwegs zu sein.
Was müssen Autofahrer tun, damit es weniger Unfälle gibt?
Ganz wichtig ist, dass die Regeln eingehalten werden. Wir halten Regeln aber nur ein, wenn sie uns einleuchten. Ein Beispiel: Die meisten von uns denken, wenn sie mit Tempo 40 durch eine Tempo-30-Zone fahren, mache das keinen großen Unterschied. Tatsache ist: Der Unterschied ist beachtlich. Aus 30 Stundenkilometern können Sie mit einer Vollbremsung innerhalb von 13 Metern zum Stehen kommen. Mit 40 Kilometern pro Stunde brauchen Sie mehr als 19 Meter. Wenn Sie also wegen eines Kindes bremsen, das vor Ihnen auf die Straße läuft, haben Sie an der Stelle, an der Sie aus Tempo 30 kommend schon stehen, aus Tempo 40 immer noch rund 35 Stundenkilometer drauf. Das kann einen verheerenden Aufprall bedeuten.
Ist die „Vision Zero“, für die der Deutsche Verkehrssicherheitsrat eintritt, angesichts dieser Fakten nicht reines Wunschdenken?
Wir unterstützen die „Vision Zero“ sehr. Sie ist auch keine Utopie. In Deutschland gibt es 181 Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern. Genau 100 davon haben in den vergangenen vier Jahren mindestens ein Jahr mit null Verkehrstoten gehabt. Die Stadt Reutlingen beispielsweise hat es in diesem Zeitraum bereits in zwei Jahren geschafft. Bei einer Zählung in 17 europäischen Staaten kommen wir auf mehr als 460 Städte, die mindestens einmal keine Verkehrstoten hatten. Die „Vision Zero“ ist also in Hunderten Städten schon Realität.