Allez, allez – der lange Weg nach Paris (XI): Die Olympischen Spiele 2024 beginnen in drei Monaten. In unserer Serie stellen wir Athletinnen und Athleten vor, die in Frankreich erfolgreich sein wollen. Zu ihnen gehört auch eine, die sich nach oben gekämpft hat.
Es gibt ja Internetseiten, die haben zu Reisen nach Helsinki im April eine recht klare Meinung. Eine ablehnende. „Nicht empfehlenswert“, heißt es da, sei es, in ebenjenem Monat in die finnische Hauptstadt zu reisen. Der Grund: „Sehr unpassende Wetterbedingungen.“ Nur gut, dass Leonie Müller auf diese Meinung gepfiffen hat.
Mitte des Monats machte sich die 24-Jährige auf nach Helsinki – und erreichte dort genau das, was sie sich vorgenommen hatte. Sie boxte im Norden Europas beim traditionsreichen GeeBee-Turnier, gewann ihre beiden Duelle im Ring und damit auch das Turnier. Was sie nun hoffen lässt, sich womöglich doch noch ihren Traum erfüllen zu können. Jenen von der Teilnahme an Olympischen Spielen.
Diesen hegt die Boxerin, die in Esslingen geboren wurde, in Ostfildern aufgewachsen ist und heute in Heidelberg lebt und trainiert, schon, seit sie mit dem Sport begonnen hat. Erst waren es das Turnen und die Rhythmische Sportgymnastik. Als sie immer größer wurde – heute misst sie 1,79 Meter –, waren die Aussichten dann gering, an den Geräten oder auf der Fläche weit zu kommen. Und sie orientierte sich um. Über ein Musikvideo der Sängerin Pink wurde sie aufs Boxen aufmerksam – und begann einen erstaunlich schnellen Aufstieg.
Mit elf angefangen, mit 13 schon deutsche Meisterin, mit 15 erstmals bei Europa- und Weltmeisterschaften, Mitglied der Nationalmannschaft – und auch Olympia war 2020 gar nicht so weit entfernt. Leonie Müller hatte sich bis zur Ersatzkandidatin hinter Nadine Apitz hochgekämpft. Die fuhr dann auch 2021 zu den wegen der Coronapandemie um ein Jahr verschobenen Spielen nach Tokio. Und für Leonie Müller war damals klar: In drei Jahren wird „das Ticket nach Paris mir gehören“. Doch der Weg in die französische Hauptstadt ist beschwerlicher als gedacht.
Am Wochenende fällt die Entscheidung
Zwar sagt Leonie Müller: „Ich habe so viel dafür getan und denke, ich hätte die Chance verdient.“ Das bisherige Qualifikationsturnier für die Spiele in Paris fand allerdings ohne sie statt. Nur eine Boxerin je Gewichtsklasse darf der Deutsche Boxsportverband (DBV) für diese Turniere nominieren – und hat sich bislang für Stefanie von Berge entschieden, die wie Leonie Müller in der Klasse bis 66 Kilogramm boxt. Für Paris qualifizieren hat sich die Kölnerin bislang aber nicht können. Nun bleibt noch eine Chance – und die Frage: Wer bekommt sie?
In Bangkok werden Ende Mai die letzten Tickets für das olympische Boxturnier vergeben, für das sich aus Deutschland bisher die Chemnitzerin Maxi Klötzer (bis 50 kg) und der in Köln trainierende Nelvie Tiafack (über 92 kg) qualifiziert haben. Beim DBV fällt nun in den kommenden Tagen die Entscheidung, ob Stefanie von Berge eine weitere oder eben Leonie Müller eine erste und zugleich letzte Chance bekommt. Erst tagt am Samstag das „Expert Ratingteam“, das dann der Nominierungskommission des Verbandes unter der Leitung von Michael Müller (nicht verwandt mit Leonie Müller) eine Empfehlung gibt. Der Sportdirektor sagt: „Leonie ist eine der Kandidatinnen, sie hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt und in Heidelberg ein gutes Trainingsumfeld.“ Mehr kann und will er kurz vor den entscheidenden Sitzungen nicht verraten.
Leonie Müller deutet zumindest an, dass sie das bisherige Prozedere nicht unbedingt als durchweg chancengleich empfunden hat, will sich aber nicht unterkriegen lassen. Weil sie schon in jungen Jahren bewiesen hat, dass sie Widerstände überwinden kann.
Als Teenager hatte die Boxerin mit einer Depression und Essstörungen zu kämpfen, schaffte es aber, aus dieser Situation herauszukommen, gesund zu werden und weiter Leistungssport betreiben zu können. Sie geht offen mit diesem Kapitel ihres Lebens um und hat schon vor Jahren erzählt, dass „der Glaube“ ihr eine entscheidende Hilfe gewesen ist. Auch jetzt helfe er ihr, mit der Situation umzugehen.
Der Glaube stärkt Leonie Müller
„Wenn Gott will, dass ich dabei sein soll, dann wird es passieren“, sagt Leonie Müller und ergänzt möglichst gelassen, aber auch angriffslustig: „Ich gebe mein Bestes – mehr kann ich nicht tun.“ Dass sie alles gibt, um das Beste zu erreichen, habe sie seit Jahren bewiesen. Für das Boxen ist sie nach Heidelberg gezogen, dort trainiert sie am Olympiastützpunkt, kämpft zudem für das Revival-Team in Darmstadt. Sie hat einst die Gewichtsklasse gewechselt und Verletzungen weggesteckt. Seit 2021 ist sie Sportsoldatin bei der Bundeswehr. Und gerade im vergangenen Jahr war die Zeit, die sie nicht in Trainingslagern, beim Blocktraining oder auf Turnieren verbracht hat, extrem knapp bemessen. „In Summe“, hat sie überschlagen, „waren es vielleicht zwei Monate.“
Nach dem Erfolg in Helsinki hofft Leonie Müller nun mehr denn je, dass auch in diesem Jahr noch weitere Reisetage hinzukommen. Erst in Thailand, dann in Frankreich. Zumal ja auch das Wetter mitspielen dürfte. Paris im Juli gilt klimatechnisch als absolut empfehlenswert.
Unsere Serie im Überblick
Genau ein Jahr vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris haben wir damit begonnen, Sportlerinnen und Sportler aus der Region Stuttgart vorzustellen. Sie alle eint ein Ziel: Sie wollen im Sommer 2024 im Zeichen der Ringe starten. Bisher erschienen:
Der Schorndorfer Ringer Jello Krahmer
Der Ingersheimer BMX-Fahrer Philip Schaub
Die Fellbacher Sportgymnastin Darja Varfolomeev
Bogenschütze Jonathan Vetter aus Deufringen
Der Nürtinger Mountainbiker Luca Schwarzbauer
Die Metzinger Handballerin Maren Weigel
Die Stuttgarter Turnerin Elisabeth Seitz
Die Mountainbikerin Elisabeth Brandau aus Schönaich
Der Sportschütze Robin Walter aus Reichenbach/Fils
Die Sindelfinger Leichtathletin Carolina Krafzik
In den kommenden Wochen und Monaten stellen wir weitere Athletinnen und Athleten in großen Porträts vor.