Was wird aus Boris Johnson? Foto: dpa/Chris Radburn

Nach drei Jahren im Amt muss der umstrittene Regierungschef die Downing Street verlassen. Was hat er neben zahlreichen Skandalen dort erreicht? Und droht ein Comeback ähnlich dem des ehemaligen italienischen Regierungschefs Berlusconi?

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ei seinem Amtsantritt im Juli 2019 stellte Queen Elizabeth II ihrem 14. Premierminister eine Frage, die der Monarchin gewiss schon länger Kopfzerbrechen bereitet hatte: Sie könne nicht recht verstehen, „warum eigentlich überhaupt jemand diesen Job haben“ wolle. Boris Johnsons Antwort ist nicht überliefert – und gut drei chaotische, krisenreiche, von einem triumphalen Wahlsieg und zahlreichen Skandalen gekennzeichnete Jahre später lässt die Bilanz seiner Amtszeit nicht nur diese Frage offen.

Übrigens war die Tatsache, dass der neue Regierungschef dieses Detail seiner allerersten Audienz brühwarm der Öffentlichkeit weiter plauderte, ein erster Hinweis auf die Besonderheit dieses Politikers. Was scherte ihn die Konvention, wonach die wöchentlichen Zusammentreffen britischer Regierungschefs mit der Königin striktem Stillschweigen beider Seiten unterliegen? Johnson hatte sich nie um althergebrachte Bräuche oder Vorschriften geschert, in der Downing Street Nummer Zehn sah er keinen Grund, daran etwas zu ändern.

Mit flotten Sprüchen und zerzaustem Haarschopf

Sein Regierungshandeln wirkte häufig wie die Provokationen eines aufsässigen Teenagers gegen die lahmarschige Erwachsenenwelt. Kein Zufall, glaubt der Johnson-Biograph Andrew Gimson: „Er machte seine Gegner mit kalkulierten Geschmacklosigkeiten absichtlich so wütend, dass sie gar nicht mehr klar denken konnten.“ Der Autor eines vergnüglichen Buches über sämtliche Premierminister seit 1721 sieht Johnson in der Tradition Benjamin Disraelis: Wie der illustre Vorgänger (1804-81) habe er instinktiv jene Bevölkerungsschichten angesprochen, die sich gern über allzu pompöse Rechthaber und Musterknaben lustig machen – das entsprechende Wort prigs liegt nicht umsonst phonetisch sehr nahe an pricks, also Deppen oder Trottel.

Mit flotten Sprüchen und zerzaustem Haarschopf, hinter dem sich ein scharfer politischer Verstand verbirgt, schaffte es Johnson als Brexit-Premier ins Amt. An der Volksentscheidung für den EU-Austritt im Juni 2016 hatte er wichtigen, vielleicht entscheidenden Anteil. Dass er seinem Land den Weg wies aus dem Brexit-Labyrinth, stellt ein wichtiges Verdienst dar – das knappe Ergebnis musste umgesetzt werden, um die zerrissene Nation zu befrieden. Den Brexit „vollendet“, wie im Wahlkampf versprochen, hat Johnson deshalb noch lange nicht. Vielmehr werden mit zunehmender Zeit die vielfältigen Probleme immer sichtbarer, die der britische Rückzug vom europäischen Einigungsprojekt mit sich bringt.

Ähnlich zwiespältig wirkt Johnsons Umgang mit der Corona-Pandemie. Er selbst weist gern – und zurecht – auf das vorbildlich schnelle britische Impfprogramm und die effektiven Hilfen für Firmen und Bürger hin. Kritiker erinnern daran, dass der erste Lockdown im März 2020 viel zu spät kam, was seriösen Berechnungen zufolge mehr als 20 000 Briten das Leben kostete. Zudem warf die Regierung panikartig auf der Suche nach Schutzkleidung mit Milliarden um sich, von denen allzu viele in den Taschen von Betrügern und Ministerfreunden verschwanden. Die zahlreichen Lockdown-Partys brachen ihm das Genick.

Kritiker nennen Boris Johnson einen „Mini-Trump“

Ein „Mini-Trump“, wie von Verächtern behauptet, war Johnson schon deshalb nicht, weil er dem fürsorgenden und Investitionen setzenden Staat eine wichtige Rolle einräumte. Wie sich das aber mit traditionellen konservativen Werten wie disziplinierter Haushaltsführung und Marktgläubigkeit verträgt, blieb stets offen.

Die Fantasie seiner Parteifreunde und der britischen Öffentlichkeit wird der gescheiterte Premier noch lange beschäftigen, dafür sorgt in allererster Linie Boris Johnson selbst. Genüsslich ist er in den vergangenen Tagen allen Journalistenfragen nach einem möglichen Comeback ausgewichen. Schon in der bitteren Rücktrittsrede Anfang Juli schürte er eine alberne Dolchstoß-Legende. Schon soll sich in der konservativen Unterhausfraktion ein harter Kern von Johnson-Ultras gebildet haben, die der Wiederkehr ihres gestürzten Helden den Weg ebnen wollen. Widerhall in der Partei hätten sie: In einer kürzlichen Umfrage hielten 51 Prozent der Mitglieder seinen Rücktritt für falsch.

Kommt es also zum „Borisconi“-Phänomen, das der frühere Entwicklungshilfeminister und scharfe Johnson-Kritiker Rory Stewart befürchtet? Wie der nach erster kurzer Amtszeit gescheiterte Silvio Berlusconi könnte auch der heute 58-Jährige ins höchste Partei- und Regierungsamt zurückkehren. Ob aber Johnson Wählerbündnis von 2019 aus Stammwählern im prosperierenden Süden des Landes und Brexit-begeisterten früheren Labour-Unterstützern noch Bestand hat?

Vielleicht widmet sich Johnson doch lieber einer lukrativen Karriere als Festredner und Kolumnist sowie Verfasser von Büchern wie einer lang geplanten Shakespeare-Biographie. Er müsse dringend „Heu machen“, hat der scheidende Premier im Freundeskreis gesagt. Seine mutmaßliche Nachfolgerin Liz Truss wird hoffen, dass diese Aufgabe seine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht.