Verbraucher in Europa können sich auf billigeres Essen in Frankreich oder preiswerteres Bauen in Italien einstellen. Deutschland, das lange einen Kompromiss verhinderte, will nicht bei der Reform mitziehen.

Brüssel - Verbraucher in Europa können sich auf billigeres Essen in Frankreich oder preiswerteres Bauen in Italien einstellen. Die EU-Staaten einigten sich in Brüssel einstimmig nach jahrelangem Streit darauf, in einigen lokalen Dienstleistungsbranchen eine verminderte Mehrwertsteuer zu erlauben.

Durch den Schritt soll die Konjunktur angekurbelt werden. Frankreich pocht seit sieben Jahren auf die Ausnahme für seine weltberühmte Gastronomie. Deutschland, das lange einen Kompromiss verhinderte, will wie Dänemark oder Estland jedoch nicht bei der Reform mitziehen.

"Deutschland wird von der Option keinen Gebrauch machen", kündigte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nach mehrstündigen Verhandlungen an. Forderungen aus dem einheimischen Hotel- und Gaststättengewerbe werde er sich widersetzen - "weil es nicht bezahlbar ist". Die möglichen Steuerausfälle sollen Milliardenhöhe erreichen. Steinbrück sagte, es werde nur in einigen Sektoren Ausnahmen geben. "Es gibt keinen Fortsetzungsroman, keine Salamitaktik." Das richtete sich gegen die EU-Kommission, die einen Vorschlag für verminderte Sätze bei umweltfreundlichen Produkten angekündigt hatte.

Der tschechische Ressortchef und amtierende Vorsitzende der Ministerrunde, Miroslav Kalousek, sagte: "Wir sprechen eine gemeinsame europäische Sprache in diesem Fall." Auch in schwierigen Situationen sei es möglich, gemeinsam Position zu beziehen. EU- Steuerkommissar Laszlo Kovacs fügte hinzu, die Fragen würden seit Jahren debattiert. Bei einem Fehlschlag wären Ende kommenden Jahres mehrere Mitgliedstaaten gezwungen gewesen, bestehende Sätze von fünf bis sechs Prozent auf mindestens 15 Prozent anzuheben. "Das hätte viele Arbeitsplätze gekostet."

Das Mehrwertsteuersystem in der EU ist ausgesprochen kompliziert. Beschlüsse müssen von allen 27 Mitgliedstaaten getragen werden. Nach den Regeln darf der Normalsatz der Mehrwertsteuer in den Mitgliedstaaten 15 Prozent nicht unterschreiten. Ausnahmen müssen von der EU beschlossen werden, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Wegen der Erweiterung der EU gibt es in den neuen Mitgliedstaaten immer noch zahlreiche Ausnahmen, die aber zeitlich befristet sind. Deutschland trat in der Debatte lange auf die Bremse, weil Berlin grundsätzlich gegen Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer ist. Die Wende brachte der EU-Gipfel im vergangenen Dezember in Brüssel, der vor allem dem Kampf gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise gewidmet war.

Die Ausnahmen beziehen sich fast ausschließlich auf Dienstleistungen. Portugal konnte allerdings eine verminderte Steuer auf die Maut durchdrücken, die für Lissabonner Brücken erhoben wird. Paris pocht seit 2002 auf die Steuerausnahme für Hotels und Gaststätten. Der frühere Staatspräsident Jacques Chirac machte dies zu einem Wahlversprechen. Paris will die Neuerung bereits zum Jahreswechsel einführen; der Satz würde von derzeit 19,6 Prozent auf 5,5 Prozent sinken.

Im Kampf gegen die grenzüberschreitende Steuerflucht verschärft die EU den Ton. Gegen Länder, die bei der Finanzmarktaufsicht und bei Steuervergehen nicht kooperieren, sollen Sanktionen möglich sein, heißt in einer Erklärung der Minister für das G-20- Finanzministertreffen am Wochenende in London. Gedacht werde beispielsweise an ein Verbot von Finanzprodukten aus diesen Ländern. Die G20-Gruppe der größten Industrie- und Schwellenländer will Steueroasen austrocknen, um die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bekämpfen.

Steinbrück begrüßte ausdrücklich das EU-Vorgehen. "Wenn man billigend in Kauf nimmt, Modelle zu haben, die zu Steuerhinterziehung und -betrug einladen, dann betrifft das die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland." Berlin hat besonders "Steueroasen" in Europa wie Liechtenstein im Visier.