Die Josefskapelle im Winter. Foto: Beiter Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Hatte die Josefskapelle vor der Sanierung 1710 sogar einen Turm?

Von Roland Beiter

Holzbalken können keine Geschichten erzählen. Aber sie können Geschichte umschreiben. Wie es dazu kommt, erinnert beinahe an die Forensik eines lange zurückliegenden Kriminalfalls, bei der die Beweislast erdrückend ist: Die Geschichte der Josefskapelle in Rangendingen muss neu geschrieben werden.

Rangendingen. Um die Geheimnisse der Balken lüften zu können, ist es notwendig, ihre Sprache zu verstehen. Einer, der dies kann, ist Hausforscher Hans-Jürgen Bleyer. Als es darum ging, ein denkmalpflegerisches Gutachten für die Sanierung der Josefskapelle aufzustellen, sollte der Diplom-Ingenieur aus Metzingen mithelfen, Licht in das bisherige Dunkel über die Entstehung der Kapelle zu bringen – mit Hilfe einer dendrochronologischen Untersuchung.

Bleyer zog 17 Bohrkerne aus den Balken des Bauwerks und konnte zweifelsfrei nachweisen, dass das Holz für den Dachstuhl aus der Winterfällung 1709/1710 stammt. Dass es dann vermutlich im selben Jahr noch aufgerichtet wurde, folgert Bleyer aus der damals üblichen Arbeitsweise. Das sei vor drei Jahrhunderten so üblich gewesen, wird der Hausforscher von Daniel Dieringer zitiert, Geschäftsführer der Zimmerei Holzbau Dieringer in Rangendingen. Er hatte die Untersuchung als Restaurator begleitet.

Und nun wird es spannend: Zwar wird von niemandem der Zeitpunkt der Erbauung des kleinen Gotteshauses an der Landstraße nach Hirrlingen genau datiert, doch wiederlegt Bleyers Ergebnis die spätestens seit dem Erscheinen des Heimatbuches wie zementiert stehende Feststellung, dass der Bau der Kapelle "aus Dankbarkeit" nach einer überstandenen Viehseuche im Jahr 1732 "bald verwirklicht" wurde. Auch in mehreren Kunst- und Kulturführern ist diese Behauptung abgedruckt – definitiv falsch. Denn die Kapelle muss eindeutig bereits vor diesem Datum gestanden haben.

Wie alt der gemauerte Teil des Gebäudes ist, vermag auch Hans-Jürgen Bleyer nicht zu sagen. Hier kommt Putzrestauratorin Luise Schreiber-Knaus ins Spiel. Ihre Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass die Kapelle Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden sein könnte. Rundbögen, wie an deren Eingangstür, seien typisch gewesen für die Zeit um 1600, wird die Diplom-Ingenieurin aus Bodelshausen von Dieringer zitiert. Auch, dass die Bauart der beiden kleinen Fenster neben dem Eingang sowohl am Haigerlocher Schlossturm wie auch an der Christuskirche Heiliger Konrad in Konstanz zu finden seien, wertet Schreiber Knaus als Beweis für ihre Vermutung. Schließlich wurden beide Sakralbauwerke Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut.

Zu dieser These würde auch eine "Zeitungsnotiz" passen, auf die im Heimatbuch verwiesen wird. Dort ist die Rede davon, dass als Ersatz für eine ehemalige Hauskapelle, in welcher in Rangendingen der Heilige Wendelin verehrt wurde, im Jahr 1616 die Josefskapelle entstand.

Dieses Datum der Erbauung nun wiederum könnte Hans-Jürgen Bleyers Vermutung stützen, dass Anfang des 18. Jahrhundert, also im Jahr 1710, lediglich der Dachstuhl des Kirchenbaus saniert wurde. Doch nach den Worten Dieringers denke der Forscher sogar noch einen Schritt weiter. Bleyer meint, dass das Kirchlein erst mit der Kirchendachsanierung sein heutiges Erscheinungsbild erhielt. Zuvor, so vermutet der Hausforscher, könnte die Kapelle sogar einen Turmreiter besessen haben.

Diese Vermutung stützt Bleyer wiederum auf zwei Dinge: So ist auf einer fürstlichen Flurkarte zur freien Pirsch zwischen Rangendingen und Hirrlingen, also dort, wo die Josefskapelle steht, ein Kirchlein eingezeichnet – und dies trägt einen viereckigen Turm.

Ein noch wichtigeres Indiz stellen für Bleyer aber die beiden an denselben Stellen aneinandergesetzten Mittelpfetten des Gebälks dar – deren jeweils beide Teile einheitlich datiert sind und nachträglich miteinander fixiert worden sind. Auch die Bundzeichen an den Balken sind nicht durchlaufend. Dies sind dagegen die beiden Schwellen, auf denen die Sparren des Daches an der Außenseite aufsetzen. Dass die Mittelpfetten mit einem Zugband aus altem Stahl zusammengefügt sind, ist für das beginnende 18. Jahrhundert nicht unüblich, erzählt Restaurator Daniel Dieringer. "Der Stahl war im 18. Jahrhundert, im Barock bereits erfunden."

Doch warum nun dieses Flickwerk an einem neuen Kirchendach? Bleyers Erklärung beruht wiederum auf seinem Wissen um die Vergangenheit. Ein "Versehen", also einen Maßfehler, schließt Bleyer aufgrund des Sakralwerks aus: "Da haben immer nur die besten Zimmerleute gearbeitet", erzählt Dieringer. Eher habe es die tiefe Gottesfürchtigkeit der Bevölkerung nicht zugelassen, dass ein Kreuz auf einem Kirchendach entfernt wurde, bevor nicht ein neues christliches Symbol anstelle dessen gen Himmel zeigte. Was bedeutet: Der Turm wurde erst abgebrochen, nachdem am hinteren Firstpunkt des Daches das doppelarmige Pest- oder Patriarchenkreuz angebracht war – und entsprechend mussten die zwei Meter bis zum Westwerk am Eingang nach dem Abbau des Turms dann "angeflickt" werden.

Dass die Kapelle in ihrer Ostausrichtung ziemlich genau hinauf zur Hochburg, dem Standort der mittelalterlichen Befestigungsanlage zeigt, ließ in Bleyer noch eine weitere Vermutung aufkommen: Nach dessen Vorstellung könnte es sogar möglich sein, dass die Kapelle noch viel älter als aus dem 17. Jahrhundert sein könnte und an dem Platz einer ehemaligen heidnischen Kultstätte erbaut wurde. Denn früher, so habe der Forscher erzählt, hätte man bei der "Einführung" neuer Gottheiten gerne die Stätten der alten Heiligtümer verwendet – auch, um das Habituelle, die Gewohnheit und das Antrainierte der Menschen auszunutzen.

Ob dies tatsächlich so war, bleibt zumindest vorerst noch ein Geheimnis. Genauso wie das in den Putzgrund geritzte Wappen mit der Jahreszahl 1721 weiterhin Rätsel aufgibt. Doch wer will heute schon wissen, was das alte Gemäuer der Josefskapelle und die Steinplatten unter dem Altar noch alles erzählen können.

Muss nach den neuesten Erkenntnissen zum Bau der Josefskapelle nun das Rangendinger Heimatbuch, der Wegweiser durch die über 1200-jährige Ortsgeschichte des Dorfes, etwa umgeschrieben werden? Geht nicht, denn das opulente Nachschlagewerk ist gedruckt und steht seit fast 25 Jahren in vielen Bücherregalen. Außerdem hat vieles, was dort zu dem kleinen Kirchlein zu lesen ist, auch über die neuen harten Fakten hinaus Bestand. Und trotzdem gilt für die Zukunft, auch für andere Bereiche der Rangendinger Heimatkunde: Wenn moderne Forschungsmethoden neue Erkenntnisse zu dem teils nur überlieferten Geschichtswissen um die Ortschronik hervorbringen, müssen diese einen festen Platz in künftigen Publikationen und vor allem auch im Bewusstsein der Menschen finden, denen die Geschichte des Ortes am Herzen liegt.