Der neue Stuttgarter Hauptbahnhof. Foto: Visualisierung: Aldinger & Wolf

Sind die vorgeschriebenen Räumungszeiten auf den Bahnsteigen nicht zu halten? SÖS/Linke werfen der Bahn vor, bei den Angaben zu den Fluchtwegen Öffentlichkeit und Gemeinderat "massiv getäuscht" zu haben.

Stuttgart - Die Fraktion von SÖS/Linke im Gemeinderat hat Stadt und Land aufgefordert, die Förderung des Bahnprojekts Stuttgart 21 einzustellen, bis die Bahn Widersprüche zur Leistungsfähigkeit der neuen Infrastruktur ausgeräumt habe.

Stuttgarts OB Fritz Kuhn (Grüne) müsse dem Bahn-Aufsichtsrat außerdem darstellen, dass die von Bahn-Chef Rüdiger Grube behaupteten Ausstiegskosten von 2,001 Milliarden Euro für Stuttgart 21 nicht zuträfen. Die Bahn setze für die Rückabwicklung des Grundstückskaufs der Stadt 795 Millionen Euro an, obwohl ehemalige Bahn-Grundstücke inzwischen bebaut seien und bei einem Scheitern des Projekts nicht zurückgegeben werden könnten.

Die Grünen im Gemeinderat hatten bereits argumentiert, dass die Ausstiegskosten sich damit um 213 Millionen Euro verringern würden, und die Projektbeendigung für den Konzern daher günstiger sei als der Weiterbau. Grube hat dem Aufsichtsrat für dessen Entscheidung am 5. März vorgerechnet, dass der Weiterbau um 77 Millionen Euro günstiger sei als ein Projektende.

Fraktionssprecher Hannes Rockenbauch und Fraktionschef Tom Adler von SÖS/Linke warfen der Bahn am Donnerstag vor, bei den Angaben zur Entfluchtung des neuen Tiefbahnhofs (Eigenrettung von Reisenden zum Beispiel im Brandfall) Öffentlichkeit und Gemeinderat „massiv getäuscht“ zu haben. Der Konzern habe an mehreren Stellen „getrickst“, um dem Technikausschuss des Gemeinderats eine „heile Welt“ vorgaukeln zu können.

Kapazität an neun Stellen „leicht überschritten“

Die Fraktionssprecher stützen sich bei ihrem Vorwurf auf eine Ausarbeitung des promovierten Physikers Christoph Engelhardt. Dieser hat im Auftrag der Fraktion bahninterne Vorgaben, Richtlinien und Gutachten zum Tiefbahnhof ausgewertet. Sein Fazit: „Es ist nicht vorstellbar, wie der Bahnhof für die Fußgänger funktionieren soll. Die Bahn hat die Personenströme um einen Faktor drei bis vier zu günstig gerechnet.“ Um eine Baugenehmigung zu erhalten, habe die Bahn Behörden gegenüber „unrichtige und unvollständige Angaben“ gemacht. Eine Komfortsteigerung bei gleichzeitiger Steigerung der Reisendenzahlen sei mit dem Tiefbahnhof gegenüber dem Kopfbahnhof nicht möglich.

Die Bahn ordnet die Bewegungsfreiheit von Reisenden alphabetischen Kategorien (A bis F) zu. Versprochen worden seien noch im Jahr 2009 für Stuttgart 21 die Stufen B bis C. Letztere bedeutet, dass die Verkehrsdichte ein „spürbares Maß“ erreicht und „andere Reisende ständig zu beachten sind“. Diese Werte seien dem Gemeinderat präsentiert worden.

Tatsächlich würden aber auf Bahnsteigen und Verbindungsstegen sowie in der alten Kopfbahnsteighalle an 52 Stellen der Wert D und neunmal E erreicht, was bedeute, dass die Kapazität an neun Stellen „leicht überschritten“ sei. An der Hauptverteilerebene in der Mitte des Tiefbahnhofs und im nördlichen Teil, wo der neue Abgang zur S-Bahn liegt, sei die Verkehrsdichte hoch, es müsse mit kurzen Staus (Merkmal der Qualitätsstufe D) gerechnet werden.

Spitzenstunde mit 2600 Reisenden nach Stuttgart

Selbst die schlechteren Werte könne die Bahn nur dadurch erreichen, dass sie unrealistische Annahmen treffe oder Hürden selbst senke. So rechne die Bahn an einer Bahnsteigkante mit einem ICE, der nur 1100 Reisende bringe. Zwei Regionalzüge mit Doppelstockwagen würden in der Spitzenstunde dagegen 2600 Reisende nach Stuttgart bringen.

Nach den Richtlinien der Bahn müsse ein Bahnsteig laut Engelhardt nach zweieinhalb Minuten geräumt sein können, denn dies sei in Stuttgart die Spanne, nach der auf gleichem Gleis der nächste Zug einfahre. „Die Bahn hat sich selbst aber vier Minuten gegeben, hält sich also nicht an die eigene Richtlinie, was letztlich zu einem desaströsen Bewegungskomfort auf den Bahnsteigen führt“, so der Physiker weiter.

Unrealistisch ist aus seiner Sicht auch die Annahme, dass 40 Prozent aller Reisenden, die von Fern- und Regionalzügen auf die S-Bahn wechseln, dazu einen Umweg über die alte Kopfbahnsteighalle nehmen. Der Umweg sei quasi ein Rechentrick, um Probleme an den S-Bahn-Abgängen der Bahnsteige zu verdecken. Seine Darstellung hat der Stuttgart-21-Kritiker auf der Internetseite www.wikireal.org dokumentiert.

Der SÖS-Stadtrat Gangolf Stocker, Projektgegner der ersten Stunde, kündigte am Donnerstag an, das Eisenbahn-Bundesamt zur Rücknahme der S-21-Baugenehmigung aufzufordern. Die Bauerlaubnis sei auf der Grundlage „völlig falscher Vorgaben gefasst worden“. Stocker griff außerdem den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) und OB Kuhn an. „Uns reicht es nicht mehr, dass Kretschmann nichts tut und Kuhn nichts tut“, so Stocker. Kuhn sei verpflichtet, Schaden von der Stadt abzuwenden, so Rockenbauch.