Die Schanghai-Organisation wird für viele Länder attraktiver. Das ist für den Westen eine schmerzliche Erkenntnis, kommentiert Christian Gottschalk.
Irgendwann einmal musste ja auch Xi Jinping seine chinesische Festung wieder verlassen. Dass der chinesische Präsident seine erste Auslandsreise nach mehr als zwei Jahren coronabedingten Landesarrestes nicht gerade zu einem Schwergewicht der Weltpolitik angetreten hat, sondern zu den zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan und Usbekistan, ist dabei nur eine Randnotiz.
Was im usbekischen Samarkand besprochen werden wird, das ist allerdings von herausragender Bedeutung. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um die persönliche Begegnung Xis mit dem Kriegsherrn und russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Im Schulterschluss gegen die USA werden die beiden ständigen Vertreter im UN-Sicherheitsrat keinen Zweifel daran lassen, dass die Zusammenarbeit zwischen China und Russland neue Höhen erklommen hat, und noch weitere Sphären erreichen wird. Auch wenn die Verhandlungen zum Bau einer neuen Gaspipeline seit Jahren stocken. Viel wichtiger als der fotogene Handschlag von Xi und Putin ist aber das, was in Samarkand hinter den Kulissen passiert.
Zu wenig Beachtung
Es ist das 22. Gipfeltreffen der Schanghai Organisation für internationale Zusammenarbeit (SCO), das Xi, Putin und eine gutes Dutzend weiterer Staatenführer dazu veranlasst hat, Usbekistan anzusteuern. Die SCO ist eine Organisation, die bei großen Teilen des so genannten Westens seit Jahren nicht die Beachtung bekommt, die sie eigentlich verdient. Denn auch wenn Zusammenarbeit, Eintracht und Geschlossenheit die Vokabeln sind, mit der offizielle Stellungnahmen der SCO regelmäßig geschmückt werden, es ist schon immer eine Organisation gewesen, die neben dem Grenzschutz und der Terrorbekämpfung auch ein Stück weit Konkurrenz zur Nato in ihrer DNA verankert hat. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass sich die SCO in den vergangenen Jahren eher in einer Art Dämmerschlaf befunden hat.
Wiederbelebung wie bei der Nato
Aber nicht nur in der Medizin, auch in der Politik kann es mitunter schnell gehen. Es ist noch nicht so lange her, als der französische Präsident Emmanuel Macron der Nato den Hirntod attestiert hatte. Die Wiederbelebung ging dann flotter, als es manch einem Betrachter des Geschehens recht sein konnte. Das runderneuerte und aufgefrischte westliche Bündnis kann nun der Katalysator dafür sein, dass auch die Schanghai-Staaten neuen Auftrieb erfahren. Kandidaten, die ein Interesse daran haben, sich gegen die weltumspannende Übermacht der USA zu positionieren, gibt es genug.
Neben Russland, China, Indien und Pakistan gehören schon jetzt auch Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan dem Bündnis an, der Iran soll nun als neuntes Vollmitglied aufgenommen werden. Auch die Zahl der offiziellen Partnerländer wird immer größer, reicht von Armenien über Kambodscha bis hin zum Nato-Mitglied Türkei. Die Öl- und Gas-Größen Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen interessiert vor der Tür.
Kein Militärbündnis in Sicht
Auch mehr als 20 Jahre nach ihrer Gründung ist die SCO eine Organisation, die ihren Weg sucht. Die Interessen der einzelnen Mitglieder sind nicht immer die gleichen, zum Teil bestehen sehr ernst zu nehmende Differenzen untereinander. Ein formelles Militärbündnis mit einer Beistandsverpflichtung wie in der Nato, wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Das Treffen zeigt aber einmal mehr, dass die Welt nicht nur aus dem so genannten Westen besteht – und das der Wunsch nach einer starken Schulter, die nicht von den US stammt, immer größere Dimensionen annimmt. Für die westlichen Akteure, die jahrzehntelang gewohnt waren, die Spielregeln weitgehend zu bestimmen, ist das ein mitunter recht schmerzvoller Erkenntnisgewinn.