Vier Stuttgarter Straftäter sind binnen kurzer Zeit aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug in Ravensburg-Weissenau ausgebüxt. Eine zufällige Häufung? Oder letztlich eine Folge der immer stärker überfüllten Einrichtungen?
Die Beamtin von der Kriminalpolizei ist auf dem Heimweg, als ihr am Bahnhof Bad Cannstatt ein Mann mit Narbe und grüner Jacke auffällt. Die Polizistin hat sogenannte Recogniser-Fähigkeiten – und weiß, woher sie den Mann kennt. Von der internen Fahndung. Sie ruft über das Führungs- und Lagezentrum ihre Kollegen herbei. Der 33-Jährige wird widerstandslos festgenommen.
Der Mann sollte sich eigentlich im Maßregelvollzug in der Klinik für Forensische Psychiatrie in Ravensburg-Weissenau aufhalten. Dort war er allerdings an jenem Novembernachmittag ausgebüxt – eine sogenannte Entweichung bei einem begleiteten Ausgang. Er ist nicht der einzige in letzter Zeit: Insgesamt vier verurteilte Stuttgarter Straftäter sind binnen fünf Monaten aus der Psychiatrie entwichen. Was unweigerlich zu der Frage führt: Wie „sicher“ ist der Maßregelvollzug denn?
Es passiert beim Einkaufen
Zwei Tage lang ist der 33-Jährige wie vom Erdboden verschluckt. Er war wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt und eingewiesen worden, hatte offenbar in der Drogenszene in Stuttgart bei einem Streit mit einer abgebrochenen Flasche gedroht. Er gehört nun zu den Sorgenfällen der Ärztliche Direktorin Dr. Roswita Hietel-Weniger. „Er war einer Pflegekraft in einem begleiteten Stadtausgang bei einem gemeinsamen Einkauf davongerannt“, sagt sie. Die Konsequenz: Eine Verlegung auf die besonders gesicherte Aufnahmestation und manchmal eine Isolierung zur Neueinschätzung der Situation. „Es wird detailliert aufgearbeitet, was vorgefallen ist“, sagt Hietel-Weniger.
Vier Männer – ein Problem
Dabei hat die Direktorin es mit weiteren Problemfällen zu tun – etwa einem 38-Jährigen, der aus Weissenau entwichen ist. Gerade mal zehn Tage, nachdem der 33-Jährige wieder eingefangen wurde. Mit einer Laufkarte als „Ticket“ sollte der 38-Jährige auf dem Gelände den 300 Meter langen Weg zu einer Arbeitstherapie zurücklegen – und verschwand dann einfach vom Gelände. Ende Juni waren es gleich zwei 25 und 27 Jahre alte Untergebrachte, die zurück nach Stuttgart wollten und vorübergehend entkamen. Läuft da was schief?
„Ein Maßregelvollzug ist kein klassischer Knast und die Patienten auch nicht geflohen, sondern nicht von vorab genehmigten Ausgängen zurückgekehrt“, sagt Pascal Murmann, Sprecher des Landes-Sozialministeriums. Die Patienten seien „als absprachefähig und nicht akut gefährlich eingestuft“ gewesen.
Das Verschwinden ist keine Straftat
Der 38-Jährige, laut Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung, Nötigung und Sachbeschädigung zu zwei Jahren drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, habe zuletzt die höchste Lockerungsstufe gehabt, so Staatsanwaltssprecher Aniello Ambrosio. Die Behörde habe dabei auf der Grundlage einer schriftlichen Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses entschieden. Ermittelt werde gegen die Ausreißer nicht, solange sie draußen keine Delikte begehen. „Ein Entweichen aus dem Maßregelvollzug erfüllt für sich genommen keinen Straftatbestand“, so Ambrosio.
Dabei sind es nicht unbedingt Bagatellen, die von den Betroffenen vor ihrer Verurteilung und Einweisung begangen hatten. Zum Juni-Fall gehört ein 25-Jähriger, der im Herbst 2021 in Bad Cannstatt seinen Bruder zu töten versucht hatte. Der 27-Jährige hatte im Dezember 2020 seine Freundin schwer verletzt.
So oft entkommen untergebrachte Straftäter
Die Ärztliche Direktorin Hietel-Weniger relativiert: „Ist die Psychose zurückgebildet, stabil remittiert und akzeptiert der Untergebrachte die Notwendigkeit einer langfristigen Medikation, dann ist der Betroffene meist nicht mehr gefährlich für die Gesellschaft und kann entlassen werden“, sagt sie. Sozialministeriumssprecher Murmann ergänzt: „Studien haben gezeigt, dass es äußerst selten zu ernsteren Zwischenfällen oder gar einschlägigen Rückfällen kam.“
Überhaupt: Werden solche Fluchtfälle, die nicht als Flucht bezeichnet werden, zu sehr aufgebauscht? Laut Sozialministerium gibt es im Land pro Jahr mehr als 200 000 „Ausgangsereignisse“ im Maßregelvollzug. „Da ist die Zahl von deutlich unter 40 Entweichungen fast verschwindend gering“, heißt es.
Forensische Klinik platzt aus allen Nähten
Verschwindend gering ist allerdings auch die Kapazität der psychiatrischen Einrichtungen. Man könnte auch sagen: Die Kliniken sind seit Jahren überfüllt. „Der Anstieg der Patientenzahlen ist ungebremst“, klagt Direktorin Hietel-Weniger. Augenblicklich habe man 192 Patienten in der Klinik. Zum Vergleich: 2019, als man in Weissenau auch schon über eine Überfüllung klagte, waren es „nur“ 145 Patienten.
Die Klinik musste therapeutisch ungünstige Dreibettzimmer einrichten, so manches Wohnzimmer ist mit Patienten belegt. Ein Altgebäude wird nicht abgerissen, sondern provisorisch ausgebaut, andere Einrichtungen des Zentrums geben Platz ab. Die Suchtabteilung zieht aus, damit im März 2023 eine zweite Aufnahmestation eingerichtet werden kann. „Und wir hoffen alle auf einen Neubau, der 2026/2027 in Betrieb gehen kann“, sagt Hietel-Weniger.
Die Kripofrau und der Zeitungszusteller
Die Not der forensischen Kliniken habe aber nichts mit den jüngsten Fluchten, die keine Fluchten sind, zu tun. „Der Behandlungs- und Sicherungsauftrag der Maßregelvollzugsklinik ist dennoch gewährleistet“, erklärt die Direktorin. Manchmal braucht es aber eine Kripobeamtin mit gutem Gedächtnis, um die Sünder einzufangen. Oder einen Zeitungszusteller. Der erkannte den 38-Jährigen aus einer Fahndungsmeldung auf der Zeitungshomepage, als der abends in einer Ravensburger Kneipe mit Fußball-WM-Übertragung eine Zigarette schnorrte.