Unbekannte legten am Rande der Massenproteste in Kiew Stahlseile um eine Granitstatue von Revolutionsführer Lenin und stürzen das rund 3,50 Meter hohe Denkmal um. Foto: DPA

Eine Stimmung wie zum Ende der Sowjetunion: Mit Massenprotesten erhöht die ukrainische Opposition den Druck auf die Regierung. Nun will die EU in Kiew eine Vermittlungsmission starten.

Kiew - Der „Millionengewinn“ blieb ein Wunschtraum. Nur rund 100 000 Ukrainer haben am Sonntag in Kiew gegen das Regime des autoritär regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch demonstriert. Manche Beobachter berichteten von 300 000. Die Veranstalter hatten den Protest als „Marsch der Million“ angekündigt. Sie selbst sprachen von einer halben Million Teilnehmern. Bei eisiger Kälte kamen demnach deutlich weniger Menschen zu der zentralen Kundgebung auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen der Hauptstadt, als sich dies die Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko erhofft hatte.

Dem Optimismus jener, die protestierten, waren allerdings kaum Grenzen gesetzt. Vor allem junge Leute verteilten rote Nelken an die schwer bewaffneten Sicherheitskräfte, die alle Regierungsgebäude weiträumig abschirmten. In vorderster Front marschierte bei den Demonstranten die Sängerin Ruslana, die 2004 den Eurovision Song Contest gewonnen hatte. Es war das Jahr, in dem sich die Ukraine durch den Triumph der demokratischen Revolution in Orange von den postsowjetischen Mafia-Kriegen der 90er Jahre befreit hatte. „Dieser Platz ist heute nicht nur ein Platz der Unabhängigkeit, sondern auch ein Platz der Hoffnung“, rief Ruslana den Demonstranten am Sonntag zu.

Moskau will die Ukraine in Eurasische Union mit Kasachstan und Weißrussland zwingen

Ihre Hoffnung setzt die Sängerin genauso wie Klitschko und die Partei der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko auf Europa. Sie alle verlangen nicht nur den Rücktritt der Janukowitsch-Regierung, sondern vor allem die Unterschrift unter einen Assoziierungsvertrag mit der EU. Janukowitsch hatte das Abkommen vor gut zwei Wochen auf Eis gelegt. Stattdessen kündigte Ministerpräsident Mykola Asarow eine „Rückkehr nach Russland“ an. Moskau versucht seit langem, die Ukraine in eine Eurasische Union mit Kasachstan und Weißrussland zu zwingen. Der ehemalige Innenminister Juri Luzenko erklärte, Janukowitsch habe mit seiner Absage an die EU „eine letzte Linie“ überschritten.

Der Zorn der ersten Protesttage in der früheren Sowjetrepublik scheint zunächst ein wenig verflogen. Doch dann werfen maskierte Unbekannte am Rande der Demonstration dicke Stahlseile um eine Granitstatue von Revolutionsführer Lenin und stürzen das rund 3,50 Meter hohe Denkmal. Schreie wie „Weg mit dem Henker des ukrainischen Volkes“ sind rund um die gestürzte Statue zu hören. Wie Trophäen tragen Anhänger der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) Splitter des bekanntesten Lenin-Denkmals der Hauptstadt zum Maidan.

Am Samstag traf sich Janukowitsch im südrussischen Sotschi mit Kremlchef Wladimir Putin. Die Gespräche über eine engere wirtschaftliche Kooperation blieben entgegen vorherigen Ankündigungen ergebnislos. Allerdings verabredeten beide Seiten Regierungskonsultationen noch vor Weihnachten. Dann könnten Verträge unterzeichnet werden, die der Ukraine milliardenschwere Vorteile sichern. Die EU hatte sich geweigert, der Ukraine, die sich seit Jahren am Rande des Staatsbankrotts bewegt, mit Großkrediten zu helfen.

Julia Timoschenko wandte sich mit einem Aufruf an die Demonstranten

Brüssel setzt vor allem auf die freie Entscheidung des ukrainischen Volkes für eine demokratische europäische Zukunft. „Wer mit uns sein will, trifft eine Wahl für Werte“, sagte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy beim Osteuropa-Gipfel Ende November im litauischen Vilnius. Er richtete die Mahnung vor allem an die Adresse des Janukowitsch-Regimes. In diesem Sinne wollen nun offenbar konservative Politiker in Europa die ukrainische Opposition stärken. Nach einem Bericht des „ Spiegels“ plant vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel eine direkte Unterstützung für die Partei Udar (Schlag) von Vitali Klitschko.

Unterdessen wandte sich die seit mehr als zwei Jahren inhaftierte Julia Timoschenko mit einem Aufruf aus dem Gefängnis an die Demonstranten. „Weicht keinen Schritt zurück, setzt euch an keinen Runden Tisch“, schrieb die Oppositionsführerin in einem Brief, den ihre Tochter Jewgenija auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz verlas. „Unser Ziel sind vorgezogene Präsidentenwahlen, und zwar sofort!“ Auch Klitschko lässt nicht locker: „Diese würdelose Regierung darf nicht im Amt bleiben.“