Immer wieder beeindruckt von der Kraft, Würde und positiven Energie der Venus: Thomas Trautmann. Foto: Trautmann

Ganz neue Sichtweisen aufs Gestern und Morgen: Das Projekt "Venusblick" von "Werk.Stadt-Schwarzwald" und Stadt toppt alle Erwartungen.

Freudenstadt - Von und auf der Plattform eröffnen sich stetig neue Aspekte und Geschichten. Vor 70 Jahren starb ihr Schöpfer David Fahrner. Welche künstlerische und emotionale Bedeutung haben die Hoffnungsskulptur der Stadt und das Projekt "Venusblick"? Unsere Redaktion sprach mit Thomas Trautmann (60). Er stammt aus Freudenstadt. Nach dem Abitur studierte er Betriebswirtschaftslehre und Fremdsprachen. Er ist Mitinhaber und Gründer der Werbeagentur Tom Texter Ydeas und Gründungsmitglied der "Werk.Stadt.Schwarzwald", dem Netzwerkverein der Kreativwirtschaft in Stadt und Raum Freudenstadt.

Herr Trautmann, was ist Ihnen beim Betrachten der Venus aus der Nähe aufgefallen, das Sie bislang noch nicht wussten?

Ich bin 1961 in Freudenstadt geboren und in der Martin-Luther-Straße ganz in der Nähe der Venus aufgewachsen. Als Kind habe ich oft zur Statue hochgeschaut und mich gefragt, was diese eindrucksvolle Figur wohl alles zu Gesicht bekommt, ob sie uns beobachtet oder über uns hinwegschaut und ihre Blicke in den Horizont eintauchen oder weit darüber hinaus mit dem Weltall verschmelzen. Als ich, ganz für mich allein, zum ersten Mal direkt vor diesem mächtigen, dynamischen, leicht und kraftvoll wirkenden Körper stand, war es nicht die Sichtweite, die mich in den Bann zog. Es war eindeutig die positive Energie, die die Venus auf mich ausstrahlte an diesem zentralen Ort im Herzen von Freudenstadt, wo alle Wege zusammenfließen zu scheinen.

Was fasziniert Sie am meisten an der Plastik?

Wie selbstbewusst, würdevoll und kraftvoll sie mehrere Meter über uns thront. Genial ist auch die fließend aufgebaute Dynamik in der Körperhaltung, durchweg mit positiver Linienführung in Aufwärtsbewegung. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass die Figur zunächst verzweifelt und erschöpft am Boden lag und sie sich dann mit den vereinten Kräften der Menschen, die für das Kunstwerk Modell standen, richtungsweisend wieder erhob.

Welchen künstlerischen und handwerklichen Wert messen Sie der Venus bei? Hat David Fahrner einen guten Job gemacht?

David Fahrner war seiner Zeit voraus, und es war vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, diese sicherlich kontrovers diskutierte Venus-Idee umsetzen zu können. Die Symbolkraft der Venus als Zeichen für Frieden, Aufbruch und Freiheit war 1954 nach all dem Leid des Kriegs sowie den enormen Anstrengungen und Kosten für den Wiederaufbaus der Stadt vielleicht noch nicht bei allen angekommen – oder angenommen. Ob David Fahrner einen guten Job gemacht hat? Da gibt es keinen Zweifel! Fahrners Venus aus den 1950er-Jahren des gewinnt jeden Tag der näheren Betrachtung an Strahlkraft und Bedeutung.

Was bewirkt dann das Projekt »Venusblick« über den Umstand hinaus, dass jeder zur Skulptur hinaufsteigen und sie und die Stadt mal von einem anderen Standpunkt aus betrachten kann?

Es ist der Perspektivwechsel, der die geniale Idee, moderne Ausführung und visionäre Ausrichtung des Kunstwerks näherbringt. Die Venus steht heute mehr denn je für Frieden, den wir uns alle so sehr wünschen. Sie passt als ausdrucksstarke Frau aber auch bestens in unsere Zeit und setzt Impulse für Wandel, Kreativität und Weitsicht gleichberechtigt in Wirtschaft und Gesellschaft. Was mir nach der Eröffnung des "Venusblicks" aufgefallen ist: Dass sich die Identifikation mit der Venus über die mittlerweile 68 Jahre seit der Installation des Kunstwerks im Herzen von Freudenstadt unterbewusst bei den Menschen kontinuierlich entwickelt haben muss. Die spontanen Reaktionen der Besucher rund um das Kunstwerk und die vielen kleinen Geschichten und Ereignisse, die mit der Venus verbunden wurden, stimmen nachdenklich oder regen an zum Schmunzeln. Der nähere Blick auf die Venus rückt die künstlerische und weitsichtige Botschaft des Werks besonders wieder ins Bewusstsein.

Wie stellt man eigentlich eine solche Skulptur aus Metall überhaupt her?

In speziellen Sand gießen oder in Wachs? Die Produktion erfolgte wahrscheinlich in der Strassacker Kunstgießerei.

Stimmt es, dass Fahrner Boden und Decke seines Ateliers rausreißen ließ, um die riesige Skulptur modellieren zu können?

So wird es erzählt. Dimension des Gipsmodells der Plastik, wie auch das Foto aus der Publikation "Stadtgestalt und Heimatgefühl von Hans-Günther Burkardt zeigt, legen den Schluss nahe.

Zwei Frauen aus Freudenstadt nehmen für sich in Anspruch, dem Künstler Modell gestanden zu haben. Haben Sie für sich einen Favoriten, welches es gewesen sein könnte?

In den 50er-Jahren war es sicher ein großer Vertrauensbeweis gegenüber dem über die Region hinaus bekannten und geschätzten Künstler, für die futuristische Venus-Statue Modell zu stehen. Übrigens waren es Formen und Charakterzüge von mindestens zwei, vielleicht auch drei Damen aus Freudenstadt und der näheren Umgebung, die für das Kunstwerk Modell standen. Für mich gibt es keine Favoritin. Es ist ein gelungenes Meisterwerk der Menschen aus der Stadt, die damals ein positives Zeichen für die Zukunft setzen wollten!

Halten Sie es überhaupt für naheliegend, dass sich Fahrner einer lebenden Person aus der Stadt ein Denkmal in Form der römischen Liebesgöttin gesetzt hat, dazu barbusig? Das war in den 50er-Jahren sicher ein Verstoß gegen die Vorstellungen von Sitte und Moral.

Vielleicht empfanden die Aufbauplaner den architektonisch gelungenen, aber sehr großen Platz nach dem Wiederaufbau – die Fontänen wurden ja viel später realisiert – noch etwas zu nackt. Anstelle des ursprünglich geplanten Fürstenschlosses musste etwas Würdiges, Erhabenes, Dynamisches und – warum auch nicht? – etwas leicht Aneckendes im Herzen der Stadt und im Zentrum des Marktplatzes entstehen. Fahrner hatte die Kreativität und das Know-how, ein solches Kunstwerk zu erschaffen. Die Freudenstädter Venus ist weit mehr als eine antike Liebesgöttin. Sie ist einzigartig und vervollständigt den großen, zentralen Platz durch positive Energie und Strahlkraft. Sie ist eine besondere und für Fahrner typische und solide bis ins Detail ausgeführte Porträtarbeit, allerdings unter erschwerten Bedingungen durch den Anspruch der Stadtentwickler im Hinblick auf die Fernwirkung.

Welches Verhältnis hatten die Freudenstädter seinerzeit zur Skulptur?

Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass wenige kritische Stimmen laut wurden, von wegen Hypotheken-Venus und nackter Oberkörper, aber die große Mehrheit der Menschen ganz still für sich von der Ästhetik und Ausstrahlung der Figur in den Bann gezogen wurde. Diesem Phänomen und diesen Verhaltensmustern begegnen wir auch immer wieder, heute auch in den Sozialen Medien, gerade wenn es um Veränderungen und neue Ideen geht.

Es heißt, Fahrner hätte die Plastik aus Kriegsschrott wie Granathülsen gießen lassen. Stimmt das oder ist das eine Legende, die gut zur Symbolik passt?

Andere Werke von Fahrner wurden wohl aus Kriegsschrott gefertigt. In punkto Venus haben wir jedoch keine Quellen gefunden!

Birgt die Venus noch Geheimnisse für Sie oder sind alle Fragen beantwortet?

Die Venus selbst birgt für mich keine Geheimnisse mehr. Sie ist offen, frei, für jede und jeden sichtbar aus der Ferne im Zentrum eines riesigen Freilichtmuseums. Sie steht in der pulsierenden Mitte des größten Marktplatzes in Deutschland und thront dort als würdevolle und stolze Botschafterin für Frieden, Freiheit und Kreativität im Herzen der jungen Renaissancestadt. Der "Venusblick" regt jetzt, aus der Nähe betrachtet, umso mehr an, in den Erinnerungen zu schwelgen. Viele Geschichten werden noch zutage kommen, die das eine oder andere Geheimnis noch lüften und fehlende Puzzleteile zusammenfügen werden.