Zwischenmenschliche Tücken der modernen Kommunikation: Tobias Rotts Inszenierung von „Das perfekte Geheimnis“ an der Esslinger Landesbühne führt über den Boulevard in den Abgrund.
Was heißt da Lüge? Hier klingelt die lautere Wahrheit. Der Handy-Signalton mit Britney Spears’ „Hit me baby one more time!“ signalisiert ganz ehrlich, was es auf sich hat mit dem Handybesitzer, dem Westentaschen-Gigolo Cosimo, in Liebesdingen so promiskuitiv wie in Geschäftsmodellen. Mit E-Zigaretten ist er gescheitert. Zuletzt hat er es erfolglos mit dem Taxi-Business getrieben, folgenreich mit seiner Freundin Marika. Sie meldet Vollzug („der Test ist positiv“), während seine frisch angetraute Gattin Bianca erst die Pille absetzt. Nebenbei begattet Cosimo noch die Gattin seines Freundes Rocco, die so wenig von ihrem Unglück ahnt wie die arme Bianca. Bis das Handy klingelt. Ein schwerer Schlag. Hit me, baby!
Paolo Genoveses äußerst bühnentaugliches Drehbuch „Das perfekte Geheimnis“ ist eine Versuchsanordnung: Was passiert, wenn dreieinhalb eng befreundete Paare einen geselligen Abend lang ihre Handy-Kommunikation offenlegen? Es passiert, was zu erwarten ist. Zwei der Paare sind keine mehr, alle Beteiligten sich vollkommen fremd geworden: „Perfetti sconosciuti“, so der italienische Originaltitel.
Wie das Erwartungsgemäße passiert, ist hoch komödiantisch – und tief ernst: eine Fallhöhe, die Tobias Rotts Inszenierung an der Esslinger Landesbühne gerade dadurch auslotet, indem sie auf Boulevard setzt. Die Spielweise tendenziell immer ein bisschen drüber, die Rollen sind Figuren, die Rollen spielen. Wenn das vorsätzlich gut gelaunte Party-Ich dann blank ziehen muss, die Menschen zu ihrer Verletzlichkeit, Demütigung und Wahrheit gelangen, führt Rotts Boulevard in den Abgrund.
Dort lauert ein altes Verhängnis: Ehrlich währt am kürzesten, weil wir die Wahrheit nicht ertragen. Am wenigsten dort, wo wir sie am meisten einfordern: im Zwischenmenschlichen. Dumm nur, dass Liebe, Lust und die Katzenmusik widerstreitender Affekte sich nicht dem moralischen Akkord fügen, den wir lauthals anstimmen. Geheimnisse voreinander? Pah!
Routinierte Heuchelei
Bei solch routinierter Heuchelei obliegt es der rücksichtslosen oder rücksichtsvollen Lüge, die Dissonanzen beziehungsschonend unhörbar zu machen. Technisch upgedatet lautet die Weisheit: Denn der Liebe tut’s nicht gut, wenn ein Handy tuten tut.
Die allgegenwärtigen Geräte radikalisieren die Krise der Diskretion zur profanen Religion. Sie sind elektronisches Sündenregister und Beichtstuhl gleichzeitig, aber ohne Absolution und Beichtgeheimnis. Sie aktualisieren die Erbsünde, weil jede(r) Dreck am Stecken und jetzt eben auf dem Handy hat. Nur ist in Genoveses eskalierendem Telefonhorror das jüngste Gericht bisweilen ein jüngstes Gerücht. Zum Beispiel dass Familienvater Lele schwul sei. Tatsächlich hat er in Erwartung des allnächtlichen Erotik-Selfies seiner Freundin das Handy mit Kumpel Peppe getauscht – und damit dessen Outing-Chance sabotiert. Die geheime Offenbarung zwischen Cyber und Sex trifft derweil auch Leles Ehefrau Carlotta: Zur Erregung eines Chat-Partners trägt sie keinen Slip unterm Rock.
Die Stunde der datendokumentierten oder fernmündlichen Wahrheit schlägt außerdem der verkrachten Familientriade der Psychoanalytikerin Eva, der Gattin Roccos (Rückzug in spießigen Kontrollwahn, Dauerclinch mit pubertierender Tochter, Verkennung des therapiebedürftigen Ehemanns). Ebenso kommen ans Licht: der Versuch, eine nervende Schwiegermutter ins Heim zu entsorgen; die geballte Homophobie der Freundschaftsbande bei den echten oder gefakten Outings; das verschwiegene Trauma eines tödlichen Unfalls und einer kriminellen Lüge. Am Steuer saß damals die betrunkene Carlotta, aber Lele gab sich als Fahrer aus, um seine Frau vor der Haftstrafe zu bewahren.
Blackbox des Lebens
Doch die Blackbox unseres Lebens ist nicht mehr das Gefängnis, sondern das Handy. Sagt Eva. Alles steckt in dem vibrierenden Fetisch, auch was verborgen bleiben will wie die erdabgewandte Seite des Mondes. Eine Mondfinsternis wollten die Partygäste beobachten, aber sie weicht der Verfinsterung der Gemüter, die identisch ist mit totaler Transparenz. Daraus hat Kerstin Jacobssen ein genial treffendes Bühnenbild gemacht: selbst eine Blackbox, jedoch wandlos, durchsichtig, denaturiert. Da rankt dünnes Grün auf einer Säule, während das üppige Bukett um die Außentür nur aufgemalt ist. Nach draußen, ins Freie geht es hier nirgends.
Demaskiert, aber nicht vorgeführt
Dass die Bewohner der durchleuchteten Dunkelkammer demaskiert, aber nicht vorgeführt werden, ist der Triumph von Regie und Ensemble. Marcus Michalskis Rocco schaltet vom stolpernden Running Gag um ins Verletzliche, Empfindliche, Einsichtige – ohne Larmoyanz, wunderbar charakteristisch. Seine Gattin Eva hat bei Kristin Göpfert etwas so kontrolliert Passiv-Aggressives, dass es umso präsenter wirkt. Eva Dorlaß lässt ihre Bianca von der kleinen Ehe-Naiven zur großen Emanzipierten reifen. Feline Zimmermanns Carlotta ist die aufgekratzte Verdrängerin wiederkehrender Verzweiflung. Und die Herren üben sich im Überspielen des zuckend schlechten Gewissens (Daniel Großkämper als Lele) oder der machohaften Angst vorm Scheitern (Boris Rosenberger als Cosimo). Während Alessandro Scheuerers Peppe einerseits eins ist mit sich und seinem Schwulsein, andererseits in die innere Emigration seines fülligen Körpers geflohen scheint.
Und die Moral von der Geschicht’? Im Epilog wachsen den Lügen lange Beine. Der Traum von der Offenheit war nur ein Alptraum, diskreditierte nicht die Diskretion, sondern sich selbst. Heimlich lebt sich’s besser? Wenn das mal keine Provokation ist!
Stück und Stoff
Vorstellungen
„Das perfekte Geheimnis“ steht am 7. September, 15. und 24. Oktober., 14. November, 18. Dezember, 31. Januar und 3. Februar wieder auf dem Spielplan im Schauspielhaus der Esslinger Landesbühne.
Verfilmungen
„Das perfekte Geheimnis“ basiert auf Paolo Genoveses Film „Perfetti sconosciuti“ („Vollkommen Unbekannte“), der 2016 in Italien in die Kinos kam. Bis heute wurden in Ländern von Deutschland bis Vietnam, von Israel bis Südkorea, von Russland bis zu einer arabischen Koproduktion nahezu 30 Remakes gedreht – ein absoluter Rekord mit Eintrag ins Guinness-Buch. Hinzu kommen zahlreiche Bühnenversionen, darunter eine von Genovese selbst.