Erst verborgen, nun zu sehen: Auf Vermeers Werk „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ hat die Restaurierung einen Cupido zum Vorschein gebracht. Eine Übermalung hatte bislang den amourösen Kontext des Gemäldes getilgt. Foto: SKD/Montage red

Übermalungen haben Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ verfälscht. Nach einer Restaurierung ist das Gemälde so zu erleben, wie es einst das Atelier verließ.

Dresden -

Vermeers Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ feiert Anfang September in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden Weltpremiere – in ursprünglicher Form und prominenter Gesellschaft. Die Staatlichen Kunstsammlungen (SKD) rahmen die vollendete Restaurierung des weltberühmten Werks des Delfter Malers mit der Ausstellung „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“.

Sie vereint insgesamt 58 Bilder niederländischer Fein- und Genremaler „von allerhöchster Qualität“, sagt Stephan Koja, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister. Mit zehn Werken ist darunter fast ein Drittel des gesamten Œuvres von Vermeer, einem der bedeutendsten holländischen Maler des 17. Jahrhunderts neben Rembrandt und Frans Hals. „Es gibt nur rund 35 Bilder.“ Zwei davon befinden sich in der Dresdner Galerie: „Bei der Kupplerin“ (1656) und die Briefleserin (um 1657-1659). Dazu kommen acht Leihgaben, darunter „Briefleserin in Blau“, „Dienstmagd mit Milchkrug“ und „Die kleine Straße“ aus dem Rijksmuseum Amsterdam, „Virginalspielerin“ aus der National Gallery London und „Frau mit Waage“ aus der National Gallery of Art in Washington.

Ein Liebesgott als Bild im Bild

In drei dieser vier Werke ist ebenfalls ein Cupido zu sehen, wie die Restaurierung ihn bei der „Briefleserin“ zum Vorschein gebracht hat. „Vermeer hat die Figur vier Mal verwendet als Bild im Bild“, sagt die Oberkonservatorin des Museums, Uta Neidhardt. Recherchen und modernste Laboruntersuchungen bestätigten zweifelsfrei, dass der in Braun- und Ockertönen gemalte Liebesgott in dem Dresdner Werk Jahrzehnte später von fremder Hand getilgt wurde - und mit ihm die amouröse Bildaussage.

Vermeers Briefleserin wurde 1742 in Paris für Sachsens Kurfürsten Friedrich August II. aus der Sammlung eines französischen Prinzen erworben. Das Bild kam schon ohne Cupido nach Dresden. Dessen Existenz ist seit einer Röntgenaufnahme 1979 bekannt, der Fund wurde 1982 veröffentlicht. Seitdem ging die Wissenschaft davon aus, dass Vermeer die Rückwand des Raumes selbst übermalte. Laut Koja deutet manches darauf hin, dass der Sammlungsverwalter, ein Maler und Restaurator, sich mit den Bildern empfehlen wollte.

Der vergessene Künstler

Die Briefleserin war eine „kleine Draufgabe“, deklariert als Rembrandt. „Vermeer war zu der Zeit vollkommen vergessen“, sagt Koja. Und das blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts so, erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er wiederentdeckt. Da in der Korrespondenz zum Dresdner Ankauf auch von einem Cupido keine Rede war, trotz dessen auffälliger Größe, „wissen wir mit Sicherheit, dass das Bild zum Zeitpunkt des Verkaufs 1742 schon übermalt war“.

Die nicht mal einen Millimeter dünne Malschicht wurde behutsam mit einem winzigen Skalpell unter dem Mikroskop entfernt, der stehende Liebesgott mit Bogen, Pfeilen und zwei Masken kam nur ganz langsam zum Vorschein. Die Schichten, die ihn verbargen, zeigen, dass Vermeer ihn nicht selbst übermalt hat, sondern das erst viel später passierte. Der Cupido ist etwa halb so groß wie das Mädchen mit dem Brief in der Hand. Er stehe „nicht für das Begehren, sondern für Treue und Wahrhaftigkeit als dem Wesen wahrer Liebe“, sagt Koja.

Laut Neidhardt waren Übermalungen im 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, wie das Anbringen von Signaturen vermeintlicher Schöpfer dieser Werke. „Auch einige Bilder Vermeers wurden partiell übermalt.“ Nach fast 270 Jahren ist die Dresdner Briefleserin nicht mehr allein, sondern von Liebe begleitet. Das 83 mal 64,5 Zentimeter große Gemälde bekommt hinter den Kulissen gerade einen edlen Ebenholzrahmen nach historischem Vorbild - für den großen Auftritt in illustrer Runde.

Eine digitale Tour lehrt, Vermeers Kunst besser zu sehen

„Es hat seine reiche Farbigkeit zurückgewonnen, es kann ganz neu gesehen werden“, sagt Koja. Darum versammelt werden Werke, die sich präzise auf dessen Thematik beziehen: Stiche, ein Emblembuch oder die Skulptur eines Cupido. Ein historischer Teppich, ein spanischer Stuhl, ein chinesischer Teller und das Oberteil eines Frauenkleides veranschaulichen die Gegenstände, „die Vermeer in seiner unnachahmlichen Weise vom Licht berührt werden lässt.“

Mittels eines sogenannten Weborello, einer digitalen Tour durch die Schau, können Besucher bei Vermeer ein bisschen „sehen lernen“, sagt Neidhardt. Bei ihm habe man oft das Gefühl, die Gegenstände greifen zu können. Er schaffe „eine perfekte Illusion der Wirklichkeit“, wie bei dem in Dresden bewahrten und nun ganz anderen Werk. „Es ist einfach ganz viel los in dem Bild.“

Info

Maler
Jan Vermeer van Delft, genannt Johannes Vermeer, ist einer der bekanntesten holländischen Maler des Barocks. Der 1632 geborene Künstler hinterließ mit heute nur 37 bekannten Bildern ein relativ kleines Werk. Seine Genreszenen und Porträts zeichnet eine ausgewogene, einfache Bildgestaltung aus. Im 19. Jahrhundert wurde das Werk des 1675 gestorbenen und zu Lebzeiten wenig bekannten Künstlers wiederentdeckt.

Museum
Die Ausstellung „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ ist vom 10. September bis zum 2. Januar 2022 in Dresden im Zwinger täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen.