Marine Le Pen kämpft um jede Stimme im Endspurt. Foto: AFP/Christophe Simon

Am Sonntag entscheiden die Franzosen: Macron oder Le Pen als Präsident oder Präsidentin? In Frankreich sorgen sich viele um Le Pens radikale Pläne zur EU.

In den letzten Umfragen vor der Stichwahl von Sonntag erhöhte Emmanuel Macron seinen Vorsprung auf Le Pen leicht – ihm werden nun 55 bis 57 Prozent Stimmen gutgeschrieben. Zugleich häuften sich besorgte Appelle an die Wählerschaft. Einhelliger Tenor: Es gebe am Amtsinhaber sicher viel auszusetzen, doch die Alternative wäre bedeutend schlimmer.

Der Grünen-Kandidat Yannik Jadot rief dazu auf, „ohne Zögern, ohne Ambivalenz, in aller Klarheit“ für Macron zu stimmen. Das TV-Duell von Mittwochabend hatte zwar keinen eindeutigen Sieger ergeben, Publikumsreaktionen legen aber die Annahme nahe, dass einige Franzosen gemerkt haben, welche Gefahr Le Pens Vorschläge für den zivilen Frieden im Land darstellen würden. Der bekannte Verfassungsrechtler Dominique Rousseau geht am weitesten: „Was Marine Le Pen vorschlägt, ist eine Art Staatsstreich“, sagte er, „die Umsetzung ihres Wahlprogrammes würde das Kulturerbe der Aufklärungsphilosophie und der Französischen Revolution über den Haufen stürzen.“

Droht der EU-Austritt Frankreichs?

Im Visier hat Rousseau das zentrale Versprechen Le Pens, die „préférence nationale“ einzuführen. Dieser „nationale Vorrang“ für Franzosen gegenüber Ausländern gälte für die Arbeitssuche, Sozialwohnungen und andere Sozialhilfen. Er wäre nicht nur ein Verstoß gegen die „égalité“, sondern auch gegen Völker- und EU-Recht. Im besten Fall würde er zu einem jahrelangen internationalen Rechtsstreit führen, im schlimmsten Fall zum EU-Austritt Frankreichs.

Warum das? Le Pen will die Neuerung per Volksabstimmung absegnen lassen und in die Verfassung einschreiben. Damit der Pariser Verfassungshof das Vorhaben wegen des Gleichheitsgebots nicht stoppen kann, will Le Pen eine weitere Bestimmung in die Verfassung aufnehmen lassen: Der „Conseil Constitutionnel“ soll Volksabstimmungen in keinem Fall für verfassungswidrig erklären können. Dafür müssten aber die beiden Parlamentskammern ihr Plazet geben.

Le Pen will weiter als Polen gehen

Das scheint zwar unrealistisch. Sicher ist aber, dass der Rechtsstreit Frankreichs Politik auf Monate hinaus blockieren würde – und dazu auch die EU. Denn der nationale Vorrang für französische Arbeiter widerspricht auch europäischem Recht. Deshalb will Le Pen generell den Vorrang des nationalen Rechts vor europäischem oder internationalem Recht in der französischen Verfassung festschreiben. Das ist der zweite Kernpunkt Le Pens. Als Präsidentin Frankreichs ginge sie damit noch weiter als Polen, wo das Verfassungsgericht einzelne europäische Bestimmungen als unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt hat. Le Pen bekämpft das ganze völkerrechtliche Prinzip, dass einmal ratifiziertes internationales Recht über nationalem Recht steht. Die Folgen wären unabsehbar. Die Rechtsunsicherheit wäre vollkommen, die EU kaum mehr handlungsfähig. Es sei denn, Frankreich träte aus der EU aus.

Offiziell will Le Pen keinen „Frexit“ mehr. Proeuropäer wie Macron werfen ihr vor, sie strebe den Austritt auf Umwegen an. So will sie auch die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr voll befolgen – offizielle Bedingung für die EU-Mitgliedschaft.