Polizeiseelsorgerin Eva-Maria Agster in ihrem Büro in Cannstatt. Dieses ist für viele ein Schutzraum. Foto: Annina Baur

Unfälle, Amokläufe und Terroranschläge hinterlassen auch bei Polizisten oft tiefe Spuren. Polizeiseelsorgerin Eva-Maria Agster und ihre Kollegen bieten dann Unterstützung an.

Stuttgart - Eines wird Eva-Maria Agster nicht vermissen: ihr Diensthandy, das wie eine Polizeisirene aufheult, wenn jemand sie sprechen will. Rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, können Polizisten in Württemberg einen Seelsorger erreichen, falls sie Unterstützung bei einem Einsatz oder auch persönliche Hilfe benötigen. Von diesem Angebot machen viele Gebrauch.

In 16 Jahren als Polizeiseelsorgerin habe sie viel Leid gesehen, in viele Abgründe geblickt, erzählt die 65-Jährige: Ereignisse wie der Absturz zweier Flugzeuge bei Überlingen, der Amoklauf in Winnenden und Wendlingen, Stuttgart 21 und der schwarze Donnerstag, die jüngsten Attacken in Ansbach, Würzburg und anderswo hinterlassen bei vielen Menschen Spuren – auch bei Polizisten. Gerade in den vergangenen Wochen wurden bei manchem Erinnerungen an dramatische, manchmal traumatische Einsätze wach. Wenn Angst, Wut, Trauer oder Schuldgefühle die Arbeit lähmen, sind Seelsorger oft die erste Anlaufstelle. Denn sie unterliegen der Schweigepflicht.

Mehr Verständnis für die eigene Verletzlichkeit

„Wir können und wollen keine Therapie anbieten, auch wenn die meisten von uns eine therapeutische Ausbildung haben. Aber wir helfen denen, die zu uns kommen, herauszufinden, was sie brauchen, und begleiten sie“, erzählt Agster, die zusammen mit einem Kollegen Ansprechpartnerin für die Polizei in Württemberg ist. Ihr Büro in Stuttgart-Cannstatt bietet den nötigen Schutzraum. Dieser ist wichtig, weil viele Betroffene private und berufliche Nachteile befürchten, wenn sie sich schwach zeigen.

In den Dienststellen landesweit ist das Angebot inzwischen ziemlich bekannt, die jüngeren Beamten haben davon auch in ihrer Ausbildung gehört. Die Polizei habe sich in den vergangenen Jahrzehnten völlig gewandelt, sagt die ehemalige Gemeindepfarrerin – weg vom Militärischen, hin zu einer Bürgerpolizei. „Damit hat sich auch das Verständnis für die eigene Verletzlichkeit verändert – durch viel interne Arbeit in der Polizei selbst, aber auch durch die Polizeiseelsorge.“ Das sei angesichts der wachsenden Anforderungen wichtig.

Auch Probleme mit Vorgesetzten belasten

Denn es sind nicht nur spektakuläre Großeinsätze, die Polizeibeamten zu schaffen machen. Viel häufiger sind es Probleme mit Kollegen oder Vorgesetzten oder der Arbeit selbst, die Polizisten das Leben vergällen. Auch Konflikte in der Familie, Alkoholprobleme oder auch eigene Straftaten spielen in den Gesprächen mit den Seelsorgern eine große Rolle.

Mangelnde Anerkennung erleben viele Polizisten auch in der Öffentlichkeit – bei Demonstrationen werden immer wieder Kollegen angepöbelt oder gar bespuckt, bei Streifgängen oder Einsätzen angegriffen und verletzt. Das vergrößert den Frust – und macht krank. Gleichzeitig steigen die Erwartungen von Bevölkerung und Politik – Überstunden sind für viele die Regel.

„Eine Organisation kann nicht immer einen gütigen und barmherzigen Blick auf die Grenzen eines Menschen haben. Die Seelsorge kann das und kann dadurch den Menschen stärken für die Wiedereingliederung und die Auseinandersetzung mit der Realität, in die er sich wieder eingliedern muss oder die einen anderen Weg nahelegt“, sagt sie.

Dass sie vor 16 Jahren einen neuen Weg wählte, hat die evangelische Theologin nicht bereut. „Ich bin sehr froh, diese Arbeits- und Lebenswirklichkeit kennenzulernen und meinen eigenen Horizont zu erweitern“, sagt sie. Das gehöre zu den Aufgaben von Kirchenleuten. In ihrer Studienzeit in Heidelberg, einer Hochzeit der Auseinandersetzungen von Studierenden mit der Polizei, oder auch später, als sie in Mutlangen gegen die Nachrüstung demonstrierte, hat ihr in den Auseinandersetzungen vieles nicht gefallen. „Etwa, dass der Mensch in der Uniform nicht wahrgenommen wurde.„Ich fand schon damals, dass man so mit Polizisten nicht umgehen kann.“

Kritik aus Kirchenkreisen

Für ihren beruflichen Wechsel bekam sie von ihrer Umgebung allerdings nicht nur Beifall. „Als Polizeiseelsorgerin musste ich mir kirchenintern zu Beginn auch den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte die Friedensarbeit verraten“, erzählt sie. Solches Schwarz-Weiß-Denken versucht sie abzubauen. Die Polizeiseelsorger sehen sich „in einer kritisch-solidarischen Haltung“ gegenüber der Polizei. „In der Seelsorge begleiten wir Menschen aus der Polizei, die Unterstützung in schwierigsten Situationen benötigen. Wir könnten nicht in Freiheit demonstrieren, wenn wir nicht auch durch die Polizei geschützt würden.“

In wenigen Wochen beendet Agster ihre Arbeit als Polizeiseelsorgerin. Sie freue sich darauf, nun im Ruhestand Zeit für Neues zu haben, sagt sie. Aber viele Weggefährten würden ihr fehlen.

Nachfolger von Agster wird Ulrich Enders (53), bisher Gemeindepfarrer in Michelbach an der Bilz.