Regisseurin Schenja Berkowitsch ist eine der politischen Gefangenen in Russland. Foto: imago/Itar-Tass/Stanislav Krasilnikov

Abgeklebte Zellenfenster, kaum Kontakt nach außen, Folter – die politischen Gefangenen Russlands sitzen teils unter lebensgefährdenden Bedingungen ihre Haft ab. Wer sind diese Menschen, die trotz allem ihre Stimme erheben?

Zum Sprechen hat er eine Maus, wenn er nicht wieder die Worte vergisst. Täglich husche das Tier durch seine Kammer, dann lege er ihm Kekskrümel hin. So erzählt es Alexej Gorinow seinen Anwälten in diesen Tagen. Der 63-Jährige war im Juli 2022 als Erster wegen der sogenannten Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee verurteilt worden. Sieben Jahre Haft wegen des Paragrafen 207.3, eines Gesetzes, das nach dem russischen Überfall auf die Ukraine geschaffen wurde und seitdem gegen jeden eingesetzt werden kann, der den russischen Angriff verurteilt. Gorinow hatte bereits bei seiner Verhaftung nur noch einen Teil seiner Lunge. In der Strafkolonie verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand weiter.

 

Derweil haben die Behörden ein neues Verfahren gegen ihn eingeleitet, dieses Mal wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“. Der Moskauer sitzt nun in U-Haft in der Stadt Wladimir, 200 Kilometer von Moskau entfernt. In seiner Kammer, so schildert er den Anwälten, gebe es weder eine Matratze noch eine Decke. Die Toilette sei kaputt, aus dem verrosteten Wasserhahn laufe nur kaltes Wasser. Er dürfe kein Buch ausleihen und den Versuch, seine Frau anzurufen, habe er verwirkt. Bei diesem einen Anruf sei sie nicht ans Telefon gegangen. Nun warte er auf die nächste Chance.

Ilja Jaschin blieb trotz Warnungen in Russland

Gorinow ist ein politischer Gefangener. Einer von mehr als 1300, wie die russische Menschenrechtsorganisation OWD-Info errechnet hat. „Er hätte auf der Liste stehen sollen, nicht ich“, sagt der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der am 1. August beim Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen freigekommen ist. Jaschin hatte sich stets für Gorinow eingesetzt, auch als er selbst hinter Gitter kam. Vor einer möglichen Festnahme war er gewarnt worden. Gorinows Haft hatte er bereits als „persönliche Einladung zur Emigration“ verstanden. Doch Jaschin blieb, prangerte den Krieg an, kritisierte den Kreml – und landete in der Strafkolonie. Achteinhalb Jahre Haft lautete das Urteil, wie bei Gorinow wegen Paragraf 207.3, „Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee“. Nach zwei Jahren aber wurde Jaschin kürzlich überraschend mit 15 weiteren politischen Gefangenen in Russland, russischen wie westlichen, gegen acht russische Spione und zwei Kinder ausgetauscht. Nur in seiner Gefängnisrobe wurde er aus seinem Land geworfen, aus dem er nie weg wollte.

Jaschin tut sich schwer als Emigrant in Berlin, zumal als erzwungener, und kämpft weiter für die Freilassung Gorinows, seines früheren Kollegen – und für alle, die teils nicht einmal das Tageslicht sehen dürfen, weil der eigene Staat sie des „Verrats am Heimatland“ bezichtigt, da sie den begonnenen Krieg dieses Staates verurteilen. Der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow rief in diesen Tagen gar das Rote Kreuz auf, sich in das Schicksal Gorinows einzumischen. „Er wird gefoltert. Er stirbt im Knast“, heißt es in dem Brief.

Maria Ponomarenko schnitt sich in Haft die Adern auf

Gorinow hatte sich als Lokalabgeordneter in seinem Stadtteil Krasnosselski im Nordosten der russischen Hauptstadt im März 2022 gegen die Ausrichtung eines Malwettbewerbs für Kinder ausgesprochen. Auch Jaschin war bis 2021 Abgeordneter dort. „Wie kann man einen solchen Wettbewerb veranstalten, während in der Ukraine, unserem souveränen Nachbar, durch die Aggression unseres Landes Kinder getötet werden und zu Waisen gemacht werden?“, hatte Gorinow bei einer Haushaltssitzung gefragt – und büßt für seine Worte nun zwischen Gefängniszelle und Krankenhaus.

Ähnlich erging es der Journalistin Maria Ponomarenko aus Barnaul in der Region Altai. Die 45-Jährige, die für das Online-Medienportal „RusNews“ schrieb – oft über soziale Themen – sitzt ebenfalls wegen des Paragrafen 207.3 ein. Sechs Jahre Haft hatte die Mutter zweier minderjähriger Töchter im Februar 2023 bekommen. Sie soll auf ihrem Telegram-Kanal „unzuverlässige Informationen über den Tod bei Beschuss eines Theaters in Mariupol“ veröffentlicht haben, so die Anklage. Bei der Bombardierung des Theaters durch die russische Armee im März 2022 sind wohl mehr als 300 Menschen getötet worden.

Igor Baryschnikow dürfte mit seiner Krankheit nicht im Gefängnis sein

Der Gesundheitszustand der an Klaustrophobie leidenden Ponomarenko verschlechterte sich im Gefängnis. Nach Monaten in der Strafkolonie in Altai kam sie in eine psychiatrische Klinik. Zurück in der Strafkolonie sollte sie in einer Zelle mit zugeklebten Fenstern ausharren. Ponomarenko schlug das Glas ein, schnitt sich die Adern auf. Wieder Psychiatrie. Mittlerweile sitzt sie in Schipunowo ein, 200 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt. Im Jahr darf sie drei Päckchen erhalten, hat die Möglichkeit auf drei kurze und drei lange Treffen mit Verwandten. Bei „gutem Benehmen“ dürfe sie bis zu drei Stunden am Tag in den Hof.

Den 65-jährigen Ingenieur Igor Baryschnikow bringen die Haftbedingungen an den Rand des Todes. Der Aktivist aus Kaliningrad hatte im März 2022 auf Facebook die Gräuel russischer Soldaten im ukrainischen Butscha kritisiert. Im Juni 2023 wurde er zu siebeneinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt, ebenfalls wegen Paragraf 207.3.

Baryschnikow lebt mit einem Bauchdeckenkatheter, der speziell gereinigt werden muss, sein Urin entweicht über Röhren. Er kann in der Gefängniskantine kaum etwas essen. Seine Ärzte hatten vor Gericht bescheinigt, Baryschnikows Krankheiten stünden auf der „Liste von Erkrankungen, die die Verbüßung einer Freiheitsstrafe verhindern“. Das Gericht störte das nicht. Der Aktivist, der nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter durfte, lebt in einer fünf Quadratmeter großen Zelle in einer Haftanstalt bei Kaliningrad, wo der Beton stets feucht sein soll und die Toilette kaum funktioniere. Er darf einmal im Monat Besuch empfangen, nie telefonieren.

Auch Jugendliche sitzen in Haft

Das russische Gefängniswesen basiert auf Bestrafung, nicht Besserung. Das System geht auf Zeiten des stalinistischen Gulags zurück und hat einen hierarchischen und militärischen Charakter. Die Gerichte urteilen nicht unabhängig, sondern erfüllen ihr Soll, vorgegeben von Behörden und Geheimdiensten. Die Kritiker des Systems Putin, ohnehin eine Minderheit, sollen durch Prozesse und Urteile mundtot gemacht werden. Da scheint es egal, ob es Anwälte sind, wie Igor Sergunin, Alexej Lipzer und Wadim Kobsew, oder Theatermacherinnen wie Schenja Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk.

Selbst vor minderjährigen Regimekritikern machen die Gerichte nicht Halt. So wurde im Juni der 15 Jahre alte Arsenij Turbin aus Liwna im Westen Russlands wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu fünf Jahren Erziehungskolonie verurteilt. Der Jugendliche hatte Flugblätter in Briefkästen geworfen, auf denen stand: „Brauchst du einen solchen ,Präsidenten’?“ Bei der Urteilsverkündung weinte der Schüler. „Ich habe wirklich nicht gewusst, dass ich irgendwas verletze. Verzeih, Mama.“

Trotz barbarischer Gesetze im Land beziehen immer wieder Menschen Position gegen die Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen und die Verbrechen des Staates. Es sind Menschen wie Antonina Faworskaja, Iwan Safronow, Daria Kosyrewa, Nadeschda Bujanowa, Nikita Schurawel, Azat Miftakhov, Jurij Dmitrijew, Grigori Melkonjanz, Alexej Moskaljow. Menschen, die für ein menschliches Russland kämpfen und dafür in Strafkolonien einsitzen. Manche bezahlen für ihren Kampf mit dem Leben – wie Alexej Nawalny. Andere werden erst nach ihrem Tod bekannt, wie der Pianist Pawel Kuschnir. Der 39-Jährige war im Juli infolge eines Hungerstreiks in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan, Russlands fernem Osten, gestorben. Kuschnir hatte auf Youtube die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha kritisiert und war im Mai wegen „Durchführung terroristischer Aktivitäten“ festgenommen worden. In seiner Zelle hatte er fünf Tage lang gehungert.