Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, gastierte am Dienstag in Stuttgart. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Im dritten und letzten Podiumsgespräch unserer Zeitung zur Bundestagswahl kann sich die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock ein neues Ministerium vorstellen. Auch zur Schuldenbremse und Außenpolitik äußerte sie sich.

Stuttgart - Wahlkämpfer führen ein Leben mit Vollgas, ohne Pause und ohne Rast. Am Sonntag stand Annalena Baerbock beim dritten TV-Triell in einem Studio in Berlin. In der Nacht ging es bereits weiter mit dem grünen Tourbus Richtung Südwesten zu Auftritten in Mainz, Mannheim, Freiburg.

Am Dienstagabend sitzt Baerbock dann auf einer Bühne in der Stuttgarter Liederhalle. In wenigen Tagen wird gewählt, Baerbock kämpft um jede Stimme. Sie sagt an diesem Abend: „Ich komme aus dem Sport. Wir sind fünf Tage vor der Bundestagswahl. Das ist wie beim Fußball, wenn man in der 85. Minute ist, geht es darum, alles zu geben, um das Spiel noch einmal zu drehen.“

So lief die Debatte mit Annalena Baerbock:

Rund 300 Zuhörer sind in die Liederhalle gekommen.

Die grüne Kanzlerkandidatin war am Dienstag in Stuttgart Gast unserer Zeitung. Die Veranstaltung trug den Titel „Das Rennen um das Kanzleramt: Corona, Klima und Konflikte – so will Annalena Baerbock Deutschland regieren.“ Moderiert wurde der Abend von Joachim Dorfs, dem Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, sowie von Swantje Dake, Chefredakteurin Digital von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Rund 300 Zuschauer nutzen die Gelegenheit, sich aus erster Hand über die Kandidatin und ihre Positionen zu informieren. Die Veranstaltung wurde auch im Internet übertragen. Bei ihrem Auftritt wirkt Baerbock wach und gut gelaunt. Vehement wirbt sie für ihr Herzensthema, den Klimaschutz. Die nächste Bundesregierung müsse eine „Klimaregierung“ werden, verlangt die 40-Jährige.

Die deutsche Industrie soll wettbewerbsfähig bleiben

Auf die Frage von Swantje Dake, was für sie im Falle von Koalitionsverhandlungen nicht verhandelbar sei, antwortet Baerbock, dass die kommende Regierung das Land mit einem Klima-Sofortprogramm auf den 1,5-Grad-Pfad des Pariser Abkommens bringen müsse. „Damit tragen wir nicht nur zum Klimaschutz bei, sondern auch zum Wohlstand.“ Es gehe auch darum, die deutsche Industrie wettbewerbsfähig zu halten. „Ich will, dass die Autos, der Stahl, der Zement der Zukunft hier produziert werden.“ Deutschland brauche ein Transformationsministerium, in dem Themen wie Klima, Energie und Digitalisierung gebündelt werden. „Wirtschaftspolitik muss endlich auf die Höhe der Zeit gebracht werden.“

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Joachim Dorfs will von der Kanzlerkandidatin wissen, inwiefern Baden-Württemberg mit seinem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann eine Blaupause für die industrielle Transformation sei. Der Ausbau der Windkraft geht hier schließlich nur schleppend voran.

Baerbock sagt, dass der Südwesten „in vielen Dingen“ ein Vorbild sei: So bringe die hiesige Regierung mit ihrem Strategiedialog etwa alle Akteure der Automobilindustrie an einen Tisch. Im Ergebnis komme in Baden-Württemberg der Ausbau der Lade-Infrastruktur schneller voran als anderswo. „Alle zehn Kilometer eine Ladesäule, alle zwanzig Kilometer eine Schnellladesäule.“ Und was den Ausbau der Windenergie betreffe, so so sei dieser von der schwarz-roten Bundesregierung systematisch ausgebremst worden.

Zermürbendes Auf und Ab im Wahlkampf

Annalena Baerbock, so viel ist gewiss, hat aufreibende Monate hinter sich. Und das liegt nicht nur an den zahlreichen Wahlkampfauftritten, die sie überall in der Republik absolviert. Nachdem die Grünen im April ihre Vorsitzende und nicht den Co-Chef Robert Habeck ins Rennen um das Kanzleramt geschickt hatten, setzte in den Umfragen zunächst ein unerwarteter Höhenflug ein. Die Ökopartei zog an der Union vorbei und kletterte auf bis zu 28 Prozent.

Doch dann setzten schnell Diskussionen ein, die sich weniger um grüne Konzepte für das Land als um die Person der Kanzlerkandidatin drehten. Plötzlich ging es um ihr Vordiplom und ihr Studium an einer Londoner Elite-Universität, um Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf, um nachträglich gemeldete Nebeneinnahmen und Plagiate in ihrem Buch. Der Höhenflug der Grünen in den Umfragen war zu Ende.

Auf Koalitionsoptionen will sich die Kandidatin nicht festlegen

Inzwischen steht die Ökopartei auf Platz drei, sie könnte nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge bei der Wahl mit einem Ergebnis zwischen 15 und 17 Prozent rechnen. Die FDP ist den Grünen auf den Fersen. Richtig ist aber auch: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Grünen an der kommenden Bundesregierung beteiligt sein werden. Sollte für Baerbock das Kanzleramt unerreichbar bleiben, kann ihre Partei immer noch auf eine starke Junior-Rolle spekulieren – entweder unter einem Kanzler Olaf Scholz (SPD) oder Armin Laschet (CDU). Baerbock würde dann sehr wahrscheinlich Ministerin.

Auf mögliche Koalitionsoptionen will sich die Kanzlerkandidatin an diesem Abend freilich nicht festlegen. Sie betont, dass die Grünen derzeit vor allem für sich kämpften. „Wir sind kein Anhängsel von anderen Parteien.“ Zugleich sei sie aber der Auffassung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssten, miteinander zu reden und mögliche Gemeinsamkeiten auszuloten. Das gelte auch für die Linkspartei. „Das heißt nicht, dass man mit allen demokratischen Parteien dieselben Schnittmengen hat.“

Eine rot-rot-grüne Koalition schließt Baerbock nicht grundsätzlich aus

Baerbock will eine mögliche rot-rot-grüne Koalition nach der Wahl nicht grundsätzlich ausschließen. Sie betont aber, dass sie sich diese Variante mit Blick auf mögliche Konflikte in der Außenpolitik nur sehr schwer vorstellen könne. Mit ihrem Nein zum jüngsten Evakuierungs-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan etwa habe sich die Linke „ins Abseits gestellt.“ Bereits in den vergangenen Wochen hatte Baerbock mehrfach deutlich gemacht, dass sie nach der Wahl lieber in einer Koalition mit der SPD regieren würde als in einem Bündnis mit der Union.

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Am Dienstag geht es neben dem Klimaschutz auch um Themen wie die Staatsfinanzen oder Außenpolitik. Baerbock erneuert die Forderung ihrer Partei, die Schuldenbremse zu reformieren, um so mehr Spielräume für Investitionen zu schaffen. Dem Land drohe der Infrastruktur-Kollaps, warnt die Kandidatin. „Die Lage ist dramatisch.“ Höhere Investitionen in Bildung und Soziales will Baerbock auch durch eine moderate Anhebung des Spitzensteuersatzes und eine Wiedereinführung der Vermögensteuer finanzieren – wobei Betriebsvermögen nicht angetastet werden sollen, wie die Kanzlerkandidatin verspricht.

Deutschland muss treibende Kraft in Europa werden

In Sachen Außenpolitik plädiert die Grünen-Chefin für eine einheitliche europäische China-Politik, am besten koordiniert mit den USA. Die scheidende Bundesregierung habe einer gemeinsamen Positionierung der Europäer bisher im Wege gestanden. Ganz grundsätzlich müsse Deutschland nach den Wahlen wieder zur treibenden Kraft der europäischen Integration werden. „Deutschland ist zurück“- das müsse die Botschaft nach einem Regierungswechsel sein.