EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Foto: imago//Nicolas Economou

Brüssel präsentiert ehrgeizige Pläne für 2023. Vor allem die Umweltpolitik in Europa soll Fahrt aufnehmen. Doch vieles hängt vom Verlauf des Kriegs in der Ukraine ab.

Europa durchlebt die schwerste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Coronapandemie schien gerade unter Kontrolle, da erschütterte der Überfall Russlands auf die Ukraine Ende Februar den gesamten Kontinent bis ins Mark. Der Krieg mitten in Europa hat nicht nur das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland auf allen Ebenen in den Grundfesten erschüttert. Die Schockwellen reichen wesentlich weiter, denn viele andere politischen und wirtschaftlichen Bereiche sind unmittelbar betroffen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen spricht von weltweiten „Spillover-Effekten – von der Energieversorgungssicherheit bis hin zu einem Paradigmenwechsel in der globalen Diplomatie“.

Der bange Blick auf den Krieg in der Ukraine

In Brüssel werden viele Entscheidungen im Moment unter Vorbehalten gefällt. Entscheidend wird sein, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. Neun Sanktionspakete gegen Moskau wurden bereits geschnürt, im kommenden Jahr dürften weitere gezielte Verschärfungen hinzukommen. Auch die finanzielle Hilfe für Kiew wird weiter fließen, um die Folgen des Kriegs etwa bei der Infrastruktur zu mildern. Ausgeweitet werden wohl auch die Ausbildungs- und Trainingsprogramme für ukrainische Soldaten. Bis zu 15 000 Männer und Frauen sollen in den kommenden Monaten in der EU für den Kampf gegen Russland trainiert werden. Brüssel betont dabei immer wieder, dass die EU keine Kriegspartei sei.

Allerdings wird auch erklärt, dass die Ukraine so lange unterstützt werde, wie es notwendig ist – finanziell, politisch, diplomatisch, mit Waffen und eben auch mit Ausbildungsmissionen. Gleichzeitig will die EU ihre eigene Verteidigungsfähigkeit ausbauen. So wird die EU-Kommission 2023 die neue Weltraumstrategie für Sicherheit und Verteidigung vorstellen. Auch die verbesserte maritime Sicherheit wird ein Thema, das ist die Reaktion auf die Anschläge auf die Gaspipelines in der Ostsee.

Der Krieg als Katalysator für den Green Deal

EU-Kommissionschefin von der Leyen hat vor drei Jahren den sogenannten Green Deal ausgerufen. Im Kampf gegen den Klimawandel soll die EU zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Der Krieg in der Ukraine und der fast vollständige Stopp der Lieferungen fossiler Energie aus Russland haben diesem Projekt einen unerwarteten Schub gegeben. In diesen Tagen haben die EU-Energieminister beschlossen, dass 2023 bürokratische Hürden beim Ausbau erneuerbarer Energien fallen sollen.

Die EU-Kommission will darüber hinaus eine umfassende Reform des EU-Strommarkts in Angriff nehmen, einschließlich der Entkopplung von Strom- und Gaspreisen. Im Jahr 2023 soll auch eine Europäische Wasserstoffbank gegründet werden, die drei Milliarden Euro investieren wird, um einen Wasserstoffmarkt in der EU anzukurbeln.

Die Reduzierung strategischer Abhängigkeiten

Die Europäische Union hat aus den bitteren Erfahrungen mit Russland ihre Lehren gezogen. Nie mehr soll sich Europa in eine derart einseitige Abhängigkeit begeben. Was das bedeutet, zeigt sich sehr deutlich am Beispiel China. Die EU-Kommission lässt wissen, dass sie im Jahr 2023 „mehrere Maßnahmen vorschlagen wird, um den aktuellen und zukünftigen Risiken strategischer Abhängigkeiten zu begegnen“.

Im Mittelpunkt steht der Zugang zu kritischen Rohstoffen, die in China abgebaut werden und beispielsweise für die Produktion von wichtigen elektronischen Bauteilen zentral sind. Das solle die „digitale und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Europas“ erhöhen, heißt es in Brüssel. Das Regime in Peking sieht sich schon seit Jahren im Systemwettbewerb mit dem Westen. Nun steuert auch die EU einen härteren Kurs. Im Rat der 27 Mitgliedstaaten wurde jüngst festgehalten, dass China kaum noch als Partner gesehen werde, sondern in den meisten wichtigen Politikbereichen ein strategischer Rivale sei.

Ein Paradigmenwechsel in der Außenpolitik

Die Außenpolitik der EU war bisher ökonomisch dominiert und wurde vor allem als Entwicklungspolitik definiert. Der direkte politische Nutzen für die Union, der aus den Brüsseler Milliardenzahlungen gezogen werden konnte, stand eher an zweiter oder sogar dritter Stelle. Durch die imperialen Ambitionen von Russland und auch China findet ein Umdenken statt.

Konkret wird 2023 etwa die Global-Gateway-Initiative vorangetrieben. Geplant ist, Projekte zur Verbesserung von umweltfreundlichen Energie-, Daten- und Transportnetzwerken zu fördern. So könnten zum Beispiel Glasfaserleitungen für schnelle Internetverbindungen, neue Eisenbahnstrecken oder Anlagen zur Herstellung und Verflüssigung von grünem Wasserstoff ausgebaut werden. Das soll nicht nur Lieferketten sichern und einseitige Abhängigkeiten vermeiden, sondern auch den politischen Einfluss der EU in der Welt festigen.

Der Subventionsstreit mit den Vereinigten Staaten

Die EU reagierte äußerst irritiert auf das milliardenschwere US-Subventionsprogramm. Dann allerdings hat EU-Kommissionschefin von der Leyen angekündigt, dass sie bereits im Januar einen neuen Rahmen für Beihilfen vorstellen werde. Ziel ist es, dass Investitionsbeihilfen und Steuergutschriften die betroffenen Sektoren leichter und schneller erreichen. Die Kommission ist in der EU dafür zuständig, Staatshilfen für Unternehmen zu prüfen und etwa zu untersuchen, ob sie den Wettbewerb verzerren.

Beim US-Programm, das offiziell Gesetz zur Verringerung der Inflation (IRA) genannt wird, handelt es sich um einen Investitionsplan im Umfang von rund 369 Milliarden Dollar (344 Milliarden Euro), mit dem auch die Erzeugung umweltfreundlicher Energie ausgebaut werden soll. Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder in den USA produzieren.

In der EU wird das Programm deswegen als diskriminierend angesehen. Es gilt als wahrscheinlich, dass dieser Streit beide Seiten noch das gesamte Jahr beschäftigen wird.

Kampf gegen die Korruption und besserer Schutz für Whistleblower

Der Schmiergeldskandal um Eva Kaili, die inzwischen ehemalige Vizepräsidentin des Europaparlaments, hat die Aufgabenstellung für 2023 zum Ende des Jahres noch um einen Punkt ergänzt: der Kampf gegen die Korruption. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hat angekündigt, die Aufklärung des Falls persönlich zu leiten. Im neuen Jahr solle ein umfassendes Reformpaket vorgelegt werden. Unter anderem soll es strengere Regeln für Organisationen und Vertreter von Drittstaaten geben, die sich mit Parlamentariern treffen wollen. Auch einen besseren Schutz für Whistleblower kündigte Metsola an.

Das Europäische Parlament zeigte sich hinsichtlich einer Aufarbeitung ebenfalls entschlossen. So stimmten die Abgeordneten fast einstimmig dafür, das Lobbyregister auszubauen und ein Ethikgremium einzurichten. Wenn die strafrechtlichen Ermittlungen in dem mutmaßlichen Bestechungsfall um die griechische Politikerin Eva Kaili vorbei sind, solle auch ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Deutliche Worte kommen auch aus der EU-Kommission. Man werde die „Sanktionstoolbox aktualisieren“, heißt es in Brüssel, um dort die Korruption auch durch Nicht-EU-Staaten einzubeziehen.