Der baden-württembergische Verteilnetzbetreiber Netze BW warnt vor Engpässen, wenn der Netzausbau nicht beschleunigt wird. Gleich mehrere Faktoren machen die Sache schwierig.
Wenn es um die Energiewende geht, ist durchaus auch immer wieder von Stromleitungen die Rede, die einen Engpass darstellen. Gemeint sind damit in der Regel aber nur die Höchstspannungsleitungen, die Windstrom vom Norden in den Süden der Republik bringen, das so genannte Übertragungsnetz. Mindestens genauso wichtig aber ist das Verteilnetz, die „vergessene Ecke der Energiewende“, wie der Vorsitzende der Geschäftsführung von Netze BW, Christoph Müller, es ausdrückt. Denn hier werden neue Windräder, PV-Anlagen oder auch Wallboxen zum Laden von E-Autos angeschlossen. Und das wird zunehmend zum Problem.
„Wir beobachten zurzeit einen unglaublichen Boom bei den Anschlusszahlen“, berichtet Müller. Habe man 2020 noch etwa 19 400 Anträge zum Netzanschluss von Photovoltaikanlagen bearbeitet, seien es im vergangenen Jahr etwa 55 000 gewesen. Bei Wallboxen hat sich die Zahl der Anträge auf 78 000 fast verzwölffacht. Angesichts steigender Preise für Strom habe das Tempo schon 2021 angezogen. Im vergangenen Jahr aber seien die Zahlen anlässlich der Ukrainekrise förmlich explodiert.
„Das stellt uns vor große Herausforderungen“, so Müller. Die erste ist personeller Art: Denn seit 2019 liegt die Zahl der Mitarbeiter, die Netzanschlüsse machen, bei Netze BW relativ konstant bei 300. Hinzu kommen Leasingkräfte. „Aber insgesamt sind wir in einer heftigen Belastungssituation“, eine schnelle Rettung sei auch nicht in Sicht, denn „solche Mitarbeiter findet man nicht einfach bei der Arbeitsagentur, die muss man an das Thema heranführen.“ Daher würden die Wartezeiten für anschlusswillige Kunden häufiger und länger, so Müller. Manche müssen bis zu acht Monate auf Antwort warten. 200 neue Mitarbeiter will die EnBW-Tochter nun in dem Bereich Netzanschluss dazugewinnen. Und sie setzt zusätzlich auf eine zunehmende Digitalisierung – auch im Kontakt mit Kunden.
„Gleichzeitig aber müssen wir das Netz ausbauen“, sagt der Netze-BW-Chef und spricht von einer „regelrechten Netzausbauwelle“. Um Leitungen zur Verfügung stellen zu können, die dem Ziel gewachsen sind, das Land bis 2040 klimaneutral zu machen, müsse fast jedes der 300 Umspannwerke des Unternehmens ausgebaut werden, müssten zahlreiche Masten des 4000 Kilometer langen Hochspannungsnetzes getauscht werden, um mehr Leitungen tragen zu können, und müsse das heute bereits 65 000 Kilometer lange Niederspannungsnetz noch erheblich wachsen, sagt Richard Huber, der Leiter Betrieb Strom-Gas-Netze bei der Netze BW.
Schon heute ist der nächstgelegene Netzanschluss oft unmöglich
Schon heute könne die eine oder andere Windenergieanlage nicht am nächstgelegenen Netzanschlusspunkt andocken, sondern müsse einem Punkt zugewiesen werden, der weiter entfernt sei – mit dem Risiko, dass die teureren Leitungskosten, die der Betreiber tragen muss, das Projekt unrentabel machen. „Dabei versuchen wir den Neuanlagen bereits entgegenzubauen“, wie Müller betont, „obwohl das im Erneuerbare-Energien-Gesetz so gar nicht vorgesehen ist.“
Schwierig sei zudem die Finanzierung des Ausbaus. Netzbetreiber bewegen sich dabei in einem regulierten Rahmen, denn, was sie als Vertreter natürlicher Monopole verdienen dürfen, legt die Bundesnetzagentur fest. Dieser Eigenkapitalzins ist jedes Mal ein großes Diskussionsthema in der Branche, weil die Netzbetreiber ihn als zu niedrig bezeichnen, während Energieversorger wie Lichtblick gegen „überhöhte Garantierenditen“ zu Felde ziehen. Seit die Bundesnetzagentur aber im Oktober 2021 das letzte Mal die Sätze festgelegt hat, ist in der Eurozone eine Zinswende eingetreten. „Seither sind Netzinvestitionen mehr als ein Prozent weniger attraktiv geworden“, rechnet Müller vor, und der Marktzins steigt weiter. Das schrecke Zulieferer ab, die ohnehin nicht so viel liefern könnten, wie es nötig sei. „Wenn die neue Produktionskapazitäten aufbauen sollen“, berichtet Huber, „fragen sie immer nach Investitionssicherheit.“
Hinzu komme, dass der Ausbau des Netzes „im laufenden Betrieb“ vonstatten gehen müsse, so Müller. Das sei in gewisser Weise mit dem Ausbau von Autobahnen vergleichbar. Nur, dass in Stromnetzen – anders als auf Straßen – kein Stau entstehen könne und auch Alternativen wie die Bahn nicht vorhanden seien: „Da gibt es irgendwo natürlicherweise eine Grenze dessen, was gleichzeitig machbar ist.“
Schließlich und endlich dauerten zudem viele Genehmigungsprozesse zu lange. In Rot am See, berichtet Huber etwa, will Netze-BW eine Hochspannungstrasse um 25 Kilometer verlängern – vorwiegend, um die wachsende Zahl von Solar- und Windenergieanlagen im Raum Schwäbisch Hall und Hohenlohe anschließen zu können. Fast zehn Jahre habe die Konsultation der Öffentlichkeit und das anschließende Raumordnungsverfahren gedauert. „Wir haben bestimmt fast 100 Varianten des Trassenverlaufs diskutiert, um am Schluss sehr nahe an einer von sechs Ursprungsvarianten zu landen“, so Huber. Nun läuft das Planfeststellungsverfahren – mit offenem Ausgang.
Nimby hilft nicht weiter
„Die Energiewende ist eine Fleißaufgabe“, sagt Müller, „wir können das schaffen, und wir werden das schaffen – aber wir müssen endlich ins Tun kommen.“ Dazu brauche es aber neben Anpassungen etwa im EEG auch eine andere Haltung bei vielen Menschen. Weit verbreitet sei die Einstellung, die Energiewende sei ein nettes Projekt, das aber nicht im eigenen Hintergarten stattfinden dürfe – im angelsächsischen Sprachraum hat sich dafür die Abkürzung Nimby, not in my backyard durchgesetzt. „Doch“, hält Müller dieser Haltung entgegen, „in Deinem und in meinem auch.“
Was tun Verteilnetzbetreiber?
Primus
Die EnBW-Tochter Netze BW ist der bei weitem größte Verteilnetzbetreiber im Südwesten. Daneben gibt es weitere – in Stuttgart etwa Stuttgart Netze.
Aufgabe
Auf verschiedenen Spannungsebenen von der Hochspannung mit 110 Kilovolt bis zu den 230 Volt, die aus der Steckdose kommen, bringen Verteilnetzbetreiber Elektrizität von den großen Stromautobahnen in die Gemeinden und schließlich bis zum Kunden. Sie sind es also auch, die Maiers Solaranlage auf dem Dach anschließen müssen oder die drei Windenergieanlagen im Hochschwarzwald.