Der stellvertretende Botschafter Martin Langer (Bildmitte, mit Schlips) stimmte die Delegation um Landrat Bastian Rosenau (rechts dahinter) auf Estland und Leute ein. Foto: enz Foto: Schwarzwälder Bote

Digitalisierung: Enzkreis-Bürgermeister informieren sich / Einfache Zugriffe zu jeder Tages- und Nachtzeit

Für Martin Langer, den stellvertretenden Botschafter Deutschlands in Estland, ist die Antwort klar: "Die Esten sind sehr pragmatisch, während wir Deutschen alles von Anfang an perfekt machen möchten", sagt er auf die Frage, warum eigentlich das kleine Land im Nordosten Europas bei der Digitalisierung die Nase vorne hat.

Enzkreis. So weit vorne, dass in der Hauptstadt Tallinn sogar eigens Präsentationsräume eingerichtet wurden, in denen Fachleute demonstrieren, wie "e-estonia" funktioniert. Fasziniert hörten dort 16 Bürgermeister aus dem Enzkreis sowie Landrat Bastian Rosenau und seine Dezernenten Hilde Neidhardt und Frank Stephan, was in Estland möglich ist. "Das Verwaltungshandeln folgt drei Grundprinzipien", erklärte Tobias Koch, gebürtiger Berliner und seit mehreren Jahren in Tallinn zu Hause: "once only" bedeutet, dass der Bürger seine Daten nur ein einziges Mal eingeben muss; "digital by default" heißt, dass sämtliche Vorgänge automatisch digital angelegt und verarbeitet werden; und "truth by design" garantiert, dass sämtliche Datenzugriffe transparent sind und jederzeit vom Bürger überprüft werden können.

Konsequent wird dabei vom Kunden her gedacht: Mit nur einer Karte, dem digitalen Personalausweis mit Chip und elektronischer Unterschriftsfunktion, kann er sich an- oder sein Fahrzeug ummelden, die Steuererklärung fertigstellen und auf sein Bankkonto zugreifen; sogar als Gesundheits-Karte fungiert der Ausweis. Formulare als pdf-Dokument zum Ausdrucken gelten als "Technik von gestern", auch Rezepte in Papierform sind passé: Welches Medikament der Arzt verschreibt, steht im Netz, von wo der Apotheker die Information abruft. Dabei prüft das System im Hintergrund gleich mit, ob der Arzt für diese Verschreibung überhaupt befugt ist.

"Was der Bürger von Amazon gewohnt ist, erwartet er auch vom Staat: einfache Zugriffe zu jeder Tages- und Nachtzeit und nicht dann, wenn die Behörde offen hat", sagt Hendrik Lume von der estnischen Firma Nortal: "Wenn ich den Wasserhahn aufdrehe, möchte ich jetzt das Wasser und nicht in einer halben Stunde. Und ich will auch nicht erst den Klempner rufen müssen." Was der Bürger praktisch findet, so ließe sich die Philosophie zusammenfassen, das nutzt er auch.

Und dabei kommt ihm der estnische Staat weit entgegen: Er informiert bei Ereignissen oder bestimmten Lebenslagen über gesetzliche Ansprüche. So erhalten Eltern den Antrag fürs Kindergeld auf den Bildschirm, wenn sich Nachwuchs eingestellt hat – und zwar schon fix und fertig ausgefüllt, weil ja alle Daten vorhanden sind. "Ich muss nur noch prüfen, ob alles stimmt, und auf den Okay-Button klicken", schwärmen die beiden Deutschen Lume und Koch. Auch die Steuererklärung enthalte so bereits alle relevanten Angaben.

Selbst kontrollieren

"Natürlich gilt die Datenschutz-Grundverordnung auch in Estland – es ist ja eine europäische Richtlinie", sagt Koch auf die Frage nach der Datensicherheit: "Estland hat sich bei vielen Gesetzen stark an Deutschland orientiert – auch beim Datenschutz." So sei genau geregelt, welche staatlichen Stellen auf welche Daten zugreifen dürfen. Dabei dürfe nicht mehr als das unbedingt Notwendige weitergegeben werden – beispielsweise nur die Postleitzahl, wenn angefragt wird, ob ein Bürger in Tallinn wohnt.

Kontrollieren kann jeder Bürger selbst: Nach dem Einloggen sind sämtliche Zugriffe auf die eigenen Daten sichtbar – mit Datum, Uhrzeit und der Stelle, von wo aus eine Anfrage kam. Gibt es Zweifel an der Rechtmäßigkeit, kann der Vorgang zur Anzeige gebracht werden. Da jegliche Handlung im Netz nur möglich ist, nachdem man sich mit seiner Identitätskarte eingeloggt hat, kann auch zweifelsfrei nachverfolgt werden, wer genau einen (illegalen) Zugriff unternommen hat.

Die Sanktionen sind drastisch: So drohen nicht nur hohe Geldstrafen, sondern sogar der Entzug der ärztlichen Approbation oder der Verlust des Jobs – so geschehen bei einem Polizisten, der die Adresse des neuen Partners seiner Ex-Frau abgefragt hatte. "Hundertprozentige Sicherheit gibt es natürlich nicht", räumt Lume ein. Michael Schmidt, Sprecher der Enzkreis-Bürgermeister, beeindruckt vor allem die Einstellung der Esten: "In Deutschland suchen wir vor allem die Risiken, hier sieht man erstmal die Vorteile."

Bei vielem allerdings können kleinere Kommunen nur schwer oder gar nicht mithalten, berichteten die Bürgermeister in Harku und Saue: Vor der Zulassung zum landesweiten Netz, der "X-Road", stehen hohe und teure Zertifizierungshürden.

Zwar habe der Staat in der Pionierzeit mit viel Geld unterstützt, beispielsweise durch gemeinsame Plattformen oder Muster-Homepages – viele System seien jedoch inzwischen hoffnungslos veraltet. "Wir diskutieren momentan, wer die Überarbeitungen finanziert", berichtet Kaimo Käärmann-Liive vom Estnischen Städte- und Gemeindebund.

Unterstützungs-Systeme

Dennoch waren die Bürgermeister aus Deutschland beeindruckt von dem, was auch die Rathäuser bieten: detaillierte Geo-Informations-Systeme, digitale Bauakten oder die Kitaplatz-Vergabe durch Algorithmen. Eine der größten Herausforderungen sieht Käärmann-Liive in der Frage, wie man mit den "Nicht-Usern" umgehen soll, vor allem mit den älteren Bürgern. "Kann man sie ignorieren?", fragt er und gibt selbst die Antwort: "Wir müssen, sonst würde es nicht funktionieren." Damit keine Zweiklassen-Gesellschaft entstehe, müssten dann entsprechende Unterstützungs-Systeme eingerichtet werden.