Für sein Buch "Pforzheims längste Nacht" verarbeitete Autor Karl-Heinz Kirchherr das bewegende Schicksal von Lieselotte Gauß. Foto: Wallburg Foto: Schwarzwälder Bote

Kultur: Erzählung auf Basis von Tatsachenberichten einer Zeitzeugin

Pforzheim/Calw. Authentischer lassen sich Geschichten wohl kaum erzählen als von Zeitzeugen, die sie erlebt haben. Die heute 90-jährige Lieselotte Gauß, aufgewachsen in Pforzheim, liefert dem Buch "Pforzheims längste Nacht" von Karl-Heinz Kirchherr den notwendigen literarischen Stoff aus ihrer Kindheit als damals Sechzehnjährige während der letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges.

Bei Lesung im voll besetzten Gerbertreff des Gerberei-Museums Calw spiegelt der Autor in seinem gerade erschienenen Buch einerseits sehr dramatisch die volle Düsternis des Krieges wider, andererseits aber auch die glücklichen Umstände, dass Lieselotte Anfang 1945 trotz aller Kriegswirren, Armut und Hungersnot in einer für damalige Verhältnisse wohlhabenden Familie behütet aufwächst und sogar eine Ausbildungsstelle bei einer Bank antritt.

Ständige Luftangriffe der Alliierten, knappe Nahrungsverhältnisse und die sich immer drastischer auflösende öffentliche Ordnung lässt jedoch die Menschen immer mehr verzweifeln, so auch Lieselotte. Ihr Vater, Maßschneider und trotz des Krieges noch verhältnismäßig gut beschäftigt, zusammen mit ihrer überaus fürsorglichen Mutter bieten Lieselotte dennoch, so gut es eben geht, ein behütetes Zuhause. Dieser Umstand führt aber trotz aller Bemühungen der Eltern nicht darüber hinweg, dass Lieselotte die Unbeschwertheit einer Jugendlichen ihres Alters und das richtige Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit dennoch stark vermisst. In vielen Situationen des täglichen Lebens beschreibt der Autor zutreffend packend die Gefühlswelt und das Lebensumfeld von Lieselotte. Nervenaufreibend und mit Todesangst begleitet sind die ständigen und unvorhersehbaren Bombenalarme und sie fragt sich nicht nur einmal, warum dies denn nicht aufhört, denn es trifft zu der Zeit ja fast nur noch hungrige Frauen und unschuldige Kinder. Die Männer sind alle an der Front. Eine besonders schwere Druckwelle einer Detonation zerstört schließlich auch den oberen Teil ihres Wohnhauses. Man zieht daraufhin nochmals um in ein leer stehendes Fabrikantenhaus im Westteil der Stadt.

Plötzlich und ohne Vorwarnung

Bereits sechs Wochen später folgt dann die Schreckensnacht, der 23. Februar 1945. Ohne sonst übliche Vorwarnung zum Flüchten in den sicher geglaubten Keller wird abends Fliegeralarm gegeben. Die erste Welle von 90 Bombern trifft die Innenstadt mit ihrer ganzen, geballten Todeslast. Eine zweite und dritte Welle folgen unaufhörlich.

Das Grauen ist kaum in Worte zu fassen. Pforzheim existiert nicht mehr. Etwa 260 Hektar der Stadt sind total zerstört, bestehen nur noch aus Schutt und rauchenden Ruinen. Nicht ein einziges Haus ist mehr bewohnbar in der ganzen Stadt. Die Flammen fressen sich durch die Fachwerkhäuser des Stadtkerns. Die Einwohner der Stadt verharren überwiegend in improvisierten Luftschutzkellern – richtige Bunker gibt es in Pforzheim nicht, nur etwa 20 zum Teil fertiggestellte Stollen und 70 öffentliche Luftschutzräume in zusätzlich abgestützten Kellern stabiler öffentlicher Gebäude.

Dem besonderen Umstand und noch mehr persönlichem Glück geschuldet, im richtigen Moment in einem besonders gut ausgebauten Luftschutzbunker einer Fabrikantenvilla mit entsprechend dicken Stahltüren geschützt gewesen zu sein, hat der Familie letztendlich ihr Leben gerettet. Anschließende Fluchtwege durch geografisch günstig gelegene und vor Hitze und Druck abgeschirmte Tunnel sowie einem unvorhergesehenen, aber letztendlich lebensrettenden Transport im Bahnwaggon in den unmittelbaren Nachbarort helfen der Familie, dem unbeschreiblichen Inferno und Höllenfeuer zu entkommen.

Unter dem Decknamen Yellowfin startete um 19.52 Uhr der Angriff der Royal Air Force mit 379 Flugzeugen. Innerhalb von 22 Minuten lud die britische Luftwaffe 1575 Tonnen Bombenmaterial aus einer Mischung von Spreng- und Brandbomben, Brandkanistern und Luftminen auf die Stadt ab und zerstörte so 98 Prozent der Pforzheimer Innenstadt. Nach Schätzungen der Pforzheimer Verwaltung starben am Abend des 23. Februar 1945 rund 17 600 Menschen. Warum musste die Stadt untergehen? Militärisch sinnvoll war der Angriff nicht; die Produktion von Zündern und Navigationsinstrumenten war mehr ein Vorwand. Der britische Militärhistoriker Richard Overy nennt die Bombardements im Frühjahr 1945 einen "entfesselten Orkan". Er sei "unverkennbar strafend in seinem Charakter und maßlos in seinem Umfang" gewesen. Treffender kann man es wohl kaum sagen. Pforzheim war ausgelöscht.

Lieselotte und ihre Familie haben überlebt. Nach einigen Monaten Notunterkunft in einer Turnhalle und späterem Aufenthalt bei ihrer Tante auf dem Land kehrt Lieselotte zu ihrer alten Bank in Pforzheim zurück und kann ihre Lehrzeit durch eigenhändige und tatkräftige Mithilfe beim Wiederaufbau schließlich noch beenden.

Lieselotte Gauß ist am 30. Dezember 1929 geboren und war zum Zeitpunkt der Handlung 16 Jahre alt. Nach dem Krieg und Beendigung ihrer Ausbildung folgt Lieselotte ihren Eltern nach Nagold. Sie heiratet und zieht gemeinsam mit ihrem Ehemann zwei Töchter groß. Mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann baut sie ein Haus in Nagold, in dem sie heute mit inzwischen 90 Jahren ihren Lebensabend verbringt. Sie ist mit der Stiefschwester des Autors verwandt.

Der Autor Karl-Heinz Kirchherr ist 1950 in Calw-Stammheim geboren. Das Schreiben liegt ihm schon als Schüler im Blut. Er verfolgt aber eine andere berufliche Laufbahn. Im Ruhestand hat sich laut Bekenntnis ein für ihn aufgestautes Bedürfnis nach ästhetischer Sprache in mehr als 800 gereimten Gedichten in sechs Jahren entladen. Mindestens 100 weitere sind inzwischen dazu gekommen, wie auch einige Kurzgeschichten und eine Novelle. Vier Gedichtbände sind im Laufe der Jahre im Engelsdorfer Verlag in Leipzig erschienen, drei davon in der dortigen Reihe "Lyrik Bibliothek" ("Träume im Nebel", "Seelenrand" und "Gedanken der Vergänglichkeit"). Ein weiterer Gedichtband mit Hardcover Einband, "Wo Himmel und Meer sich begegnen", enthält neben Gedichten von Kirchherr Aquarelle seiner Schwester, die seit mehr als 50 Jahren in Schottland lebt.

Viele Texte des Autors sind in verschiedenen Gedichte-Foren unter dem Pseudonym "Galapapa" und auf seiner Homepage www.galapapa.de veröffentlicht. Sein Schreiben war stets begleitet von zahlreichen Lesungen im In- und Ausland, wie zum Beispiel mehrere Veranstaltungen in Berlin, unter anderem auch in der Gedächtniskirche.

Die jetzige Lesung wurde musikalisch begleitet von Beate Stahl-Erlenmaier (Klavier), Luisa Geist Blockflöte und Charlotte Reis (Querflöte). Im Calwer Gerberei-Museum finden seit 2013 jährlich Lesungen mit Texten von Kirchherr statt, oft auch zusammen mit anderen Autoren.