Alexander Solschenizyn (links). Foto: dpa

Auf Wunsch von Premier Putin müssen Russlands Schüler Solschenizyns Hauptwerk lesen.

Moskau - Er konnte es nicht. Konnte es nicht eingrenzen, nur ein einziges Wort weglassen. Es war doch sein Kind, das er nicht anging, das er in Ruhe ließ, obwohl es ihn sein Leben lang in Atem hielt. Alexander Solschenizyn beließ seinen "Archipel Gulag" in der russischen Version stets so, wie er ihn einst im estnischen Versteck verfasste. Nun, zwei Jahre nach dem Tod des Autors, erscheint das Monumentalwerk in Russland in gekürzter Fassung und wird an den Schulen zur Pflichtlektüre - fast 40 Jahre, nachdem Solschenizyn genau wegen dieses Buches des Landes verwiesen wurde.

"Ein ganz besonderes Ereignis", freut sich die Solschenizyn-Biografin Ljudmila Saraskina. "Ein großer Schritt", sagt Natalja Solschenizyna, die Witwe des einstigen Dissidenten. Und selbst Premier Wladimir Putin ist voll des Lobes: "Dieses Buch ist Pflicht. Ohne das Wissen, was hier wiedergegeben wird, werden wir kein vollständiges Bild unseres Landes haben." Ein Bild Stalinscher Schreckensherrschaft, ein Bild jahrelanger Deportationen, Arbeitslager, grausamen Massensterbens. "Ein Bild voller Blut und Schweiß, voller Tränen und Entsetzen", wie es Solschenizyna nennt. Die Witwe des im August 2008 gestorbenen Literatur-Nobelpreisträgers hat das Werk um Zweidrittel gekürzt, hat aus drei Bänden mit etwa 1200 Seiten ein Schulbuch aus rund 400 Seiten gemacht. "Es ist ein Buch, das Kraft gibt und Klarheit schafft, in zwei bis drei Tagen zu lesen", sagt sie. Ein Buch, das Elftklässler ab Februar kommenden Jahren im Literaturunterricht durchnehmen sollen.

Putin selbst war es, der im September 2008 das russische Bildungsministerium beauftragt hatte, die Werke Solschenizyns im Schulprogramm zu verankern. Das überrascht. Und ist tatsächlich so nötig, wie alle fordern, die nun über die Schullektüre des "Archipel Gulag" jubeln. Denn die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit fällt den Russen immer noch nicht leicht. Wer kritische Fragen stellt, gilt schnell als Nestbeschmutzer, immer wieder bricht sich die Stalin-Nostalgie Bahn. Erst im Mai dieses Jahres war eine Diskussion um Stalin-Plakate in Moskau entbrannt. 2008 wählten die Zuschauer des Staatsfernsehens den früheren Generalissimus zum drittbeliebtesten Russen aller Zeiten. Und in einem Schul-Geschichtsbuch von 2007 wird der Massenmörder als "fähigster Führer der Sowjetunion" bezeichnet.

Erste Light-Version gab es 1985

"Ich war entsetzt, wie wenig Schüler über die jüngste Vergangenheit unseres Landes wissen", berichtet Natalja Solschenizyna. Doch gerade die Schulen seien es, die Kinder auf das Leben vorbereiten, die ihnen beibringen sollen, wie sie auf die Ereignisse der Gegenwart reagieren, wie sie bestimmten Begebenheiten vorbeugen sollen. "Aber drei Bände - das packen die Kinder nicht, das habe ich auch irgendwann eingesehen." Ja, ihr Mann habe sich stets geweigert, das Buch zu kürzen. "Es tat ihm einfach im Herzen weh, auch wenn er einsah, dass viele womöglich gar keinen Zugang zu einem solch dicken Werk finden", sagt die 70-Jährige.

Die erste Light-Version gab es bereits 1985, für US-Studenten. In den 90ern fand sich das Buch endlich auch in russischen Läden. Ganz legal. Ohne für den Besitz für zehn Jahre im Gefängnis zu landen, ohne als Landesverräter zu gelten. Seit vergangenem Jahr steht seine Lektüre im Schulplan. Bisher lag es jedoch am jeweiligen Lehrer, das komplizierte Buch im Unterricht durchzunehmen. Das soll mit der Kurzfassung anders werden. "Es sind alle 64 Kapitel noch da, nur drei davon sind stark gekürzt", sagt Solschenizyna. Als eine "große Sache", bezeichnet die Zeitung "Nowaja Gaseta" derweil das Ereignis. "Als wäre ein Eisbrecher in See gestochen." Recht hat sie.